OCR
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland war das faschistische Italien bereit, jüdische Flüchtlinge, wie überhaupt alle von der Rassenpolitik Verfolgten, aufzunehmen. Die Haltung der Regierung wurde in einem Schreiben des Außenministeriums an die Italienische Botschaft in Berlin vom 13. April 1933 wie folgt dargelegt: Die Königliche Regierung hat grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, daß deutsche Juden nach Italien kommen, um sich hier niederzulassen, sofern es sich natürlich nicht um Personen handelt, die aktiv in gegen den Faschismus gerichteten politischen Parteien tätig waren, wobei von vornherein klarzustellen ist, daß die Königliche Regierung keinerlei politische Tätigkeit von ihrer Seite dulden wird, die sich gegen das deutsche Regime wendet.' Diese Erklärung stand in Einklang mit der bisherigen Politik gegenüber den rund 45.000 italienischen Juden, die zu der Zeit noch die vollständige staatsbürgerliche Gleichberechtigung genossen. Eine Rassenpolitik hatte Mussolini noch nicht im Auge. Sie wurde erst im Herbst 1938 eingeführt.” Die Erklärung lag jedoch auf der Linie der faschistischen Diktatur, die oppositionelle politische Parteien verboten hatte und ihre Gegner unnachsichtig verfolgte. Sie wurden, soweit sie sich nicht durch die Flucht ins Ausland der Verhaftung entziehen konnten, oft zu hohen Gefängnisstrafen oder zu langjähriger Verbannung auf den vor der süditalienischen Küste gelegenen Gefangeneninseln verurteilt.’ Die faschistische Diktatur, die in vielem der nationalsozialistischen ähnelte und ihr zum Vorbild gedient hatte, hielt Juden in Deutschland, die der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik verbunden waren, im allgemeinen ab, Italien zum Exil zu wählen, obwohl die Entwicklung zur antisemitischen Politik noch kaum zu erkennen war. Auf der anderen Seite bot die italienische Ausländergesetzgebung der frühen dreißiger Jahre eine Reihe günstiger Voraussetzungen für die Niederlassung. Es bestand kein Visumzwang. Der Aufenthalt wurde von den Quästuren in der Regel anstandslos gewährt, wenn genügend Mittel zum Unterhalt nachgewiesen werden konnten. Die Berufsausübung von Ausländern war in vielen Bereichen erlaubt. Der selbständigen Berufstätigkeit wurden kaum Schranken auferlegt, und selbst ein Angestelltenverhältnis in der Privatwirtschaft wurde in den meisten Fällen genehmigt. Hinzu kam, daß die Italiener Emigranten in der Regel unvoreingenommen und freundlich begegneten, ja ihnen gegenüber häufig Verständnis und Mitgefühl zeigten. Antisemitische Einstellungen waren in Italien wenig verbreitet und traten nur selten schroff in Erscheinung. Auch auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs zurückgehende Ressentiments, wie sie jüdische Emigranten in Frankreich zu verspüren bekamen, waren in Italien kaum zu bemerken. Schließlich konnte man sich bei der Wahl Italiens als Exilland der Täuschung hingeben - und viele taten es -, daß die anfänglichen außenpolitischen Gegensätze zwischen Rom und Berlin, die am deutlichsten in Mussolinis Unterstützung der Unabhängigkeit Österreichs hervortraten, von Dauer sein oder gar zum Bruch führen könnten.‘ An der Zahl der jüdischen Flüchtlinge in Italien, die sich der Verfolgung in Deutschland entzogen hatten, läßt sich ablesen, daß sie weit hinter den Aufnahmemöglichkeiten des Landes zurückblieb. Das Mißtrauen gegenüber der faschistischen Diktatur war letztlich doch stärker als die Verlockung der durch die Ausländergesetzgebung gebotenen Vorteile. Im Juni 1933 waren es 400 Flüchtlinge aus Deutschland (deutsche Staatsbürger und etwa 20 Prozent zuvor in Deutschland ansässige polnische Juden), im Oktober 1934: 1200 — 1300, im Mai 1936: 2000 — 2100 und im September 1938: 3200 — 3400. Als Österreich am 12. März 1938 von deutschen Truppen besetzt und unmittelbar danach annektiert wurde und das Land eine ähnliche Unterdrückungs- und Terrorwelle erlebte wie fünf Jahre zuvor Deutschland, hatten sich die Voraussetzungen für ein Exil in Italien nachhaltig verschlechtert. Die Ausländergesetzgebung war zwar unverändert geblieben und eine Benachteiligung jüdischer Emigranten gegenüber anderen Ausländern war bisher nicht eingetreten, doch die außenpolitische Konstellation war jetzt eine völlig andere. Italien hatte sich seit dem Frühjahr 1936, aufdem Weg zur „Achse Rom-Berlin“, Deutschland zunehmend angenähert und seinen außenpolitischen Unabhängigkeitsspielraum weitgehend aufgegeben. Mussolini stimmte der Annexion Österreichs zu, die er lange Zeit hatte verhindern wollen. Im Zeichen der Annäherung und Selbstangleichung häuften sich antisemitische Artikel in der Presse, die sich nach und nach zu einer regelrechten antisemitischen Kampagne ausweiteten, ab März 1937 auch mit rassenideologischer Färbung. Im Februar 1938 ließ die Erklärung in der „Informazione diplomatica n. 14“ aufhorchen, die eine Minderung der Rechte der italienischen Juden nicht mehr ausschloß.‘ Verschlechtert hatten sich zum Zeitpunkt der Annexion aber auch die Aufnahmebedingungen in anderen europäischen Exilländern. Die sofort nach der Annexion einsetzende Fluchtbewegung vor allem von Juden aus Österreich hatte oft eine zusätzliche Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen zur Folge. Schon wenig mehr als zwei Wochen nach der Annexion führte die Schweiz die Visumpflicht für österreichische Pässe ein. In beschränktem Maß wurden nur Visen ausgegeben, die zur Durchreise mit einem Kurzaufenthalt berechtigten. Folglich stiegen die illegalen Einreisen an der Schweizer Grenze in Vorarlberg drastisch an, so daß die Grenzwachen verstärkt wurden und in großem Umfang Zurückweisungen vornahmen. Als die nationalsozialistische Regierung die Einführung deutscher Pässe für die österreichischen Staatsbürger ankündigte, einigte sich die Schweiz mit ihr über die Eintragung des roten J-Stempels in den Pässen, durch den Juden an der Grenze erkenntlich waren und an der Einreise gehindert werden konnten.’ Ähnlich restriktiv wie die Schweiz verhielt sich Frankreich gegenüber den Flüchtlingen aus Österreich. Durch die Dekrete 25