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Die Lebensbedingungen der in Italien zurückgebliebenen Juden verschlechterten sich zusehends, denn vom 12. März an galt für sie ein allgemeines Arbeitsverbot. Auch wenn die Behörden vielfach illegale Gelegenheitsarbeit duldeten, schritt die Verarmung rasch voran, so daß gegen Ende 1939 über 3.000 Menschen von den jüdischen Hilfskomitees unterstützt werden mußten. Trotz der Aussetzung der allgemeinen Ausweisung übte das Innenministerium weiterhin Druck auf die jüdischen Einwanderer und Flüchtlinge aus, indem es zunehmend Einzelabschiebungen an allen Grenzen mit Ausnahme der deutschen durchführen ließ. Sie erstreckten sich zunächst hauptsächlich auf Personen, die keinen Antrag auf Ausreiseaufschub gestellt oder die Fristverlängerung überschritten hatten. Die Grenzpolizei erhielt die Anweisung, die „Ausreise mit allen Mitteln zu erleichtern“, das heißt, behilflich zu sein, bei der illegalen Überquerung der Grenze die Grenzwachen des Nachbarstaats zu umgehen. Im Mittelpunkt der Abschiebungen stand die französische Grenze zwischen Menton und Ventimiglia. Zum Teil erfolgten sie über die Bergpfade längs der Küste. Als jedoch die Grenze auf französischer Seite stärker bewacht wurde und zunehmend Zurückweisungen stattfanden, organisierten ortskundige Fischer und Matrosen, oft auch professionelle Schmuggler, Transporte auf Motorbooten an die Küste zwischen Menton und Cap d’Antibes. Die Transporte waren mit dem Grenzpolizeikommissariat in Ventimiglia abgesprochen, das sich die Passagierlisten vorlegen ließ und am Ort der Einschiffung Kontrollen vornahm. Wenn die Boote ihre Passagiere an der französischen Küste absetzen konnten, trat das jüdische Hilfskomitee in Nizza bei den Behörden für den Verbleib der Flüchtlinge in Frankreich ein. In der Regel wurden sie zu der vorgesehenen Mindeststrafe von einem Monat Haft und einer Geldbuße verurteilt, die von dem Hilfskomitee bezahlt wurde. Paolo Veziano hat in seinem Buch Ombre di confine für den Zeitraum von April 1939 bis Mai 1940 insgesamt 62 Transporte mit 934 Passagieren nachweisen können. Über ein Drittel von ihnen waren Flüchtlinge aus Österreich.” Auch nach dem Erlaß des Dekrets vom 7. September 1938 blieb die Grenze vorläufig für Juden offen. Die Ausweisungsandrohung reichte dem Innenministerium offensichtlich aus, um Menschen von der Flucht nach Italien abzuhalten. Erst am 27. Februar des folgenden Jahres führte das Außenministerium den Visumzwang für Juden ein, deren Pässe jetzt mit dem J-Stempel gekennzeichnet waren. Das Visum berechtigte zu einem Aufenthalt von anfangs bis zu drei und etwas später von bis zu sechs Monaten „zum Tourismus, zur Einschiffung, zur Kur, zum Studium und zu Geschaftszwecken“ und war an einen bestimmten, bei der Beantragung anzugebenden Aufenthaltsort gebunden. Anfangs wurde das Touristenvisum nur zögernd verwendet. Als sich jedoch herausstellte, daß die angedrohte Ausweisung ausgesetzt war, schnellte die Zahl der Einreisen mit dem Visum in die Höhe: im Juni 1939: 539, im Juli: 984 und in den ersten drei Augustwochen: 1.274. Sobald das Innenministerium begriff, daß das Touristenvisum seinen Zweck verfehlte und fast ausschließlich zur Flucht diente, hob es das Visum am 19. August 1939 wieder auf. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch 3.053 Inhaber des Visums in Italien, und zwar 1.904 deutsche Staatsbürger (in der Mehrzahl Österreicher), 385 Polen (vornehmlich aus Österreich), 223 „ehemalige Tschechen“ und 120 Staatenlose. Dem standen 10 Schweizer, 9 Amerikaner, 9 Engländer und 6 Franzosen gegenüber. Insgesamt konnten sich noch über 4.000 Menschen mit dem Touristenvisum vor der sich steigernden Verfolgung retten.” 28 Da innerhalb der von dem Touristenvisum gesetzten Frist von sechs Monaten nur geringe Aussicht auf ein Weiterkommen bestand, begaben sich immer mehr Menschen, die mit dem Visum eingereist waren, an die französische Grenze bei Ventimiglia in der Hoffnung, über die Bergpfade oder auf einem Boot illegal nach Frankreich zu gelangen. Allem Anschein nach erhielten viele Juden schon vor ihrer Abreise vor allem in Wien Kenntnis von dem Schlupfloch bei Ventimiglia und beantragten das Touristenvisum von vornherein in der Absicht, über Italien die Flucht nach Frankreich zu versuchen. War es ursprünglich das Ziel der italienischen Behörden gewesen, „die Ausreise mit allen Mitteln zu erleichtern“, um jüdische Flüchtlinge aus Italien zu entfernen, so hatte diese Anordnung jetzt den gegenteiligen Effekt: Sie zog immer mehr Flüchtlinge nach Italien an. Sobald Mussolini die Zusammenhänge durchschaute, befahl er Mitte Juli die Abschiebung aller mit dem Touristenvisum Eingereisten, die den von ihnen angegebenen Aufenthaltsort verließen, an der „Grenze der Einreise“, das heißt, an der deutschen Grenze. Es war das erste Mal, daß eine solche Maßnahme getroffen wurde. Das Innenministerium ordnete Hunderte solcher Abschiebungen an. Die Präfekten, denen hierzu dem italienischen Verwaltungsrecht nach die letzte Entscheidung zustand, führten jedoch nur weniger als hundert aus. Offenbar scheuten viele von ihnen vor dem äußersten Mittel der Abschiebung an die deutsche Grenze zurück.” Nach der Aufhebung des Touristenvisums stellten die italienischen Konsulate nur noch Transitvisen für Juden aus, wenn sie ein Einreisevisum für ein anderes Land und ein gültiges Schiffsbillet vorlegen konnten. Am 18. Mai 1940, wenige Wochen vor dem Kriegseintritt Italiens, wurde auch das Transitvisum aufgehoben. Insgesamt erreichten im Zeitraum der italienischen Nichtkriegführung noch 4.000 bis 6.000 Juden — eine genauere Schätzung ist nicht möglich — mit dem Transitvisum Italien. Die meisten konnten sich in Triest nach Palästina einschiffen. Zu ihnen gehörte auch eine größere Zahl österreichischer Juden, die noch vor dem Beginn des Weltkriegs vom Palästina-Amt in Wien Zertifikate erhalten hatte. Einige hundert Juden, die mit dem Transitvisum eingereist waren, blieben in Italien hängen, weil ihre Einreisevisen verfallen oder von Anfang an vorschriftswidrig zuerteilt worden waren.” Beim Kriegseintritt Italiens an der Seite Deutschlands am 10. Juni 1940 befanden sich noch über 3.800 jüdische Einwanderer und Flüchtlinge in Italien, die das Land nicht hatten verlassen können. Der Anteil der Österreicher muß sehr hoch gewesen sein, weil die meisten von ihnen später in Italien eingetroffen waren als die Deutschen und deshalb weniger Zeit gehabt hatten, ihre Weiterwanderung zu betreiben. Während in den frühen Zählungen die österreichischen Juden noch als „ex austriaci“ — ehemalige Österreicher — aufscheinen, wurden sie nach dem Kriegseintritt Italiens im allgemeinen nur noch als deutsche Staatsbürger bezeichnet und sind daher statistisch nicht von den deutschen Juden zu unterscheiden. * Der Kriegseintritt Italiens hatte unmittelbar danach die Internierung der jüdischen Einwanderer und Flüchtlinge zur Folge. Eigentlich hätten nur die Staatsangehörigen der Länder, mit denen Italien im Krieg stand: Engländer und Franzosen interniert werden dürfen. Doch auch die Juden mit deutscher und polnischer Staatsangehörigkeit sowie die Juden aus dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ wurden den „feindlichen Ausländern“ gleichgestellt. Die Internierung wurde somit eng mit der Rassenpolitik verknüpft.”