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Belsen.* Im Juni 1944 wurde das Lager wegen der zunehmenden Partisanenangriffe in der Poebene nach Bozen-Gries in der „Operationszone Alpenvorland“ verlegt, die eine eigene politische Einheit unter einem Gauleiter bildete und praktisch von Deutschland annektiert war. Die Lagerleitung blieb dieselbe wie in Fossoli. Von Bozen-Gries gingen noch weitere Transporte nach Auschwitz, Bergen-Belsen und Ravensbrück aus.” Auch in der „Operationszone Adriatisches Küstenland“, die ebenfalls einem Gauleiter unterstellt war, mit den Provinzen Udine, Triest, Fiume, Pola und Ljubljana, wurden die Deportationen von der deutschen Polizei unabhängig vom Territorium der Repubblica Sociale Italiana über das Lager in der Risiera di San Sabba am Stadtrand von Triest vorgenommen. Es hatte hier dieselbe zentrale Funktion wie Fossoli als „Sammel- und Durchgangslager“.* Einen Sonderfall bildete das Lager in Borgo San Dalmazzo bei Cuneo. Es wurde von einer Waffen-SS-Einheit zur Internierung jüdischer Flüchtlinge errichtet, die in den Tagen nach dem Waffenstillstand der Regierung Badoglio vor den vorrückenden deutschen Truppen aus Frankreich über die Alpenpässe ins Piemont geflohen waren. Die 350 Flüchtlinge in dem Lager, unter ihnen nur wenige Österreicher, wurden am 21. November 1943 über Nizza und Drancy nach Auschwitz deportiert.” Die jüdischen Flüchtlinge in Italien erkannten in der Regel früher die Gefahr als die italienischen Juden, die meist erst unter dem Schock der Razzien der deutschen Polizei ihre Wohnungen verließen und sich versteckten. Endgültige Sicherheit vor der Verhaftung und Deportation bot aber erst die Flucht in die Schweiz oder nach Süden zu den Alliierten. Die Schweizer Grenze wurde auf italienischer Seite vom deutschen Zollgrenzschutz bewacht, der von ihm festgenommene Juden an das Außenkommando der Sipo und des SD in Como überstellte, das die Deportation nach Auschwitz vornahm. Zudem wies die Schweiz bis Dezember 1943 über sechzehn Jahre alte Juden in der Regel an der Grenze zurück. Trotzdem wurden außer italienischen, ungefähr 1.500 Juden, die in Italien als Einwanderer und Flüchtlinge gelebt hatten, von der Schweiz aufgenommen.“ Die Flucht nach Süden war nicht weniger risikoreich. Die Überquerung der Frontlinie war mit großen Gefahren verbunden und wurde nur in einigen hundert Fällen gewagt. Manchmal erreichten Flüchtlinge auf Fischerbooten entlang der Adriaküste unter Umgehung der Frontlinie das befreite Gebiet. Die meisten Flüchtlinge, die den Weg nach Süden einschlugen, blieben in Rom hängen und versteckten sich dort.” Von den ausländischen Juden in Italien wurde ungefähr jeder vierte, von den italienischen Juden jeder fünfte deportiert und erlitt meistens den Tod. Wer von der Verhaftung und Deportation verschont blieb, verdankte dies fast immer der Hilfe von Italienern. Es waren nicht nur politisch bewußte Gegner der Repubblica Sociale Italiana, die nur bei einer kleinen, fanatischen und zum Teil auch antisemitisch und rassistisch eingestellten Minderheit Rückhalt hatte, sondern oft auch einfache, weitgehend unpolitische Menschen, etwa Bauern in abgelegenen Gegenden, die aus spontanem Mitgefühl handelten. Priester und Ordensgeistliche leisteten Erstaunliches, indem sie unter hohem Risiko für sich selbst in kirchlichen Gebäuden Unterschlupf boten, falsche Ausweispapiere herstellten oder die Flucht in die Schweiz oder nach Süden unterstützten. Als die jüdische Hilfsorganisation Delasem (Delegazione per l’assistenza agli emigranti) ihre Büros schließen mußte, bildete sich ein Netz von Klerikern, die für die Verteilung der Unterstützungsgelder an die im Versteck Lebenden sorgten.” Eines der schönsten Beispiele für die Hilfsbereitschaft und Solidarität von Italienern ist die Rettung der 73 Kinder der Villa Emma in Nonantola, die bereits in den ersten beiden Tagen nach der Verkündung des Waffenstillstands der Regierung Badoglio und dem kurz danach erfolgten Einmarsch deutscher Truppen Unterkunft und Schutz im örtlichen Priesterseminar, bei Nonnen und bei einheimischen Familien fanden.’' Wie die autobiographischen Berichte erkennen lassen, hing das Überleben oft von dramatischen, kaum vorhersehbaren Umständen ab. Die Hilfsbereitschaft vieler Italiener darf dabei nicht vergessen werden. Klaus Voigt studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war an der Universität Paris III, am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und am Institut für Geschichtswissenschaft der Technischen Universität Berlin sowie freiberuflich tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind das deutschsprachige Exil nach 1933 und die Geschichte der europäischen Einigungsidee. Er war Kurator der Ausstellungen: „Zuflucht auf Widerruf. Deutsche Künstler und Wissenschaftler in Italien. 1933-1945“ (gezeigt 1995 in Mailand und Berlin) und „Die jüdischen Kinder der Villa Emma in Nonantola“ (Wanderausstellung ab 2001). Anmerkungen 1 Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri, Rom, Germania, Busta 14 (1333/1) Antisemitismo tedesco, Telegramm des Außenministeriums an die Italienische Botschaft in Berlin, 13.4. 1933. 2 Michele Sarfatti: Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identitä, persecuzione, Torino: Einaudi 2001. 3 Carlo Spartaco Capogreco. I campi del duce. L’internamento civile nell’Italia fascista (1940 — 1943). Torino: Einaudi 2004. 4 Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933 -1945. Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta 1989, 26ff, 151ff. 5 Voigt, Bd. 1, 141. 6 Sarfatti, Gli ebrei nell’ Italia fascista, 138ff. 7 Unabhängige Expertenkommission Schweiz — Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Bern 1999, 77ff. 8 Barbara Vormeier: Frankreich. In: Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen, Gerhard Paul, Lutz Winkler (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 —1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, 213 — 250, hier: 218ff. 9 Vgl. Erika Weinzierl: Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938-1945. Graz: Styria 1997 (4. Auflage) 10 Archivio Centrale dello Stato, Rom, PS, A 16 Ebrei stranieri, Busta 2/A5/1, Innenministerium an Grenzpräfekten, 18.3. 1938. Vgl. Voigt, Bd. 1, 268. 11 Ebenda, 122ff. 12 Ebenda, 266ff. 13 Archivio Centrale dello Stato, Rom, PS, A 16 Ebrei stranieri, Busta 1/A1/4, Appunto, Rom 17.9. 1938. 14 Voigt, Bd. 1, 268f., 271 ff. 15 Unabhängige Expertenkommission Schweiz — Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge, 109. 16 Voigt, Bd. 1, 271f. 17 Ebenda, 267ff; Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, 455. 18 Sarfatti: Gli ebrei nell’ Italia fascista, 176ff; Renzo De Felice: Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Torino: Einaudi 1996 (4. Auflage), 344ff.; Enzo Collotti: Il fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia. Roma: Laterza 2003, 80ff. 19 Voigt, Bd. 1, 144, 280ff.; Sarfati: Gli ebrei nell’Italia fascista, 1 70ff. 20 Voigt, Bd. 1, 287ff. 21 Ebenda, 289, 297ff, 342ff. 22 Paolo Veziano: Ombre di confine. L’emigrazione clandestina degli ebrei stranieri dalla Riviera dei Fiori verso la Costa Azzurra (1938 — 31