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Nach einigen Monaten wurde es ihm und seiner Frau erlaubt, nach Petrella Tifernina, einem Internierungsort im Molise (Süditalien), 20 km von Campobasso entfernt, überzuwechseln. Auch die zahlreichen Briefe aus Petrella Tifernina an Valeria Jellici sind voller Trostlosigkeit und Sehnsucht. Hier einige Sätze: „Ich träume immer davon, wie wir zusammen waren ... auf der Bank beim Kachelofen, die ich mit meinem Elefantengewicht fast ruiniert hätte ... ich kann nichts anderes sagen, als daß unsere Gedanken immer bei Dir und all den anderen in Moena sind, die uns gern haben ... Ich sage immer wieder, unsere Gedanken sind immer bei Euch ... hätten wir nicht die Hoffnung, wieder mit Euch zusammen zu sein, so wäre unser Leben nichts mehr wert.“ Ein anderes Mal ist es Johanna, die der Freundin ihr Dilemma anvertraut: „... wir überlegen, uns taufen zu lassen. Was meinst Du? Würdest Du unsere Entscheidung gutheißen? Ich gehe am Sonntag in die Messe, und es gefällt mir sehr.“ Welche Mutlosigkeit muß diese Verfolgten befallen haben, daß sie vor einer solchen Entscheidung standen. Wer die Lehrerin Valeria Jellici kennt, darf annehmen, daß sie die ratlosen Freunde an die Parabel in Lessings „Nathan“ erinnerte, die sie vielleicht gemeinsam gelesen hatten: Jeder kann Gott Vater in seiner Religion anbeten, weil die drei Ringe, die er uns gegeben hat, identisch sind; es ist sinnlos, sie auszutauschen. Vielsagend sind auch die Briefe der Schwester und der Mutter Hedwig aus dem Zwangsaufenthalt in Soraga; sie erreichen die entfernten, internierten Verwandten fast täglich. Eigentlich sollten sie die Empfänger ermutigen, aber sie können die starke psychische Belastung der Absender nicht verbergen. Die Rede ist immer von Kälte und von Eis. Gemeint ist nicht nur das winterliche Eis der Dolomiten, sondern auch das der Seele jemandes, der am Ende des Tunnels kein Licht sieht: „Lieber Richard, ich bin sehr traurig. Schreib bald! Wir sind so allein ... ich denke immer an Dich ... ich wünsche mir so sehr, meinen Richard zu sehen! 100.000 Küsse, Mama.“ Zum Glück halfen die Freundin Valeria und manchmal auch die Nachbarinnen den beiden Frauen beim Schreiben der Briefe auf italienisch. „Wir müssen die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen aufrecht erhalten. Hier hält die Kälte an... Mama und ich sitzen auf der Bank in der Sonne und warten auf die Post, aber wir haben nichts erhalten ... schreibt bald und viel ... es liegt Schnee auf den Bergen ... der neue Bürgermeister ist sehr freundlich ... ich werde mein Möglichstes tun, um wieder gesund zu werden, damit ich die Freude erleben darf, mit Euch wieder in Frieden zusammenzuleben ...“ Es ist ein zäher Dialog zwischen schutzlosen Menschen, die unentwegt aneinander denken. Die Postkarte vom 25. Januar 1941 enthält die letzten Worte der Mutter: „Wenn ihr wieder hier seid, werde ich mich vielleicht wieder erholen“. Drei Wochen später stirbt Hedwig an Darmkrebs. Sie ist die einzige der fünf Flüchtlinge, die eines natürlichen Todes starb, die einzige, die auf einem Friedhof beerdigt ist: Am Ende ihres Lebens war Hedwig Löwy, geborene Katz, zum Katholizismus konvertiert und hatte den erzkatholischen Namen „Maria Immacolata“ angenommen. Bis heute steht am Eingang des Friedhofes in Soraga ein Holzkreuz mit diesem Namen, das an die Geschichte der Löwys, der Riesenfelds und Millionen ihresgleichen erinnert, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben — eine Geschichte voller Abenteuer. Jedoch ohne guten Ausgang. Am 17. Februar 1941 wurde dem Ehepaar Lowy und Hermann Riesenfeld erlaubt, das Lager zu verlassen und nach Moena zurtickzukehren, wo sie allerdings im Zwangsaufenthalt leben miissen. 38 Foto: Sammlung Giorgio Jellici, Erlangen Wir sind mitten im Krieg. Das Leben ist auch im Herzen der Dolomiten schwer geworden. Seit Herbst 1938 gelten auch in Italien die rassistischen Verfolgungsgesetze. Die Juden sind in ein Ghettodasein voller Angst gezwungen. Wie leben die Löwys weiter? Die Bevölkerung Moenas ließ sich nicht von den unmenschlichen, gegen die Juden gerichteten Ideologien beeinflussen. Was denn! Ihr Ehrenbürger sollte jetzt ein gefährlicher Feind sein? Ein „Unterwanderer der reinen italienischen Rasse“? Ein Untermensch? Lächerlich! Alle, wann und wie immer sie können, helfen: mit ein paar Kartoffeln, einem Liter Milch, einem halben Kilo Butter, einigen Rüben, einem Schlitten Lärchenästen für den Ofen. Und alle tun es wie selbstverständlich, wie etwas, das man tun muß. Keiner will deshalb ein Held sein, auch nicht am Ende des Krieges. Der geradlinige Charakter der Bergbewohner zeigt sich und die Löwys lassen keine Gelegenheit aus, sich nützlich zu machen. Richard und Hermann geben halb Moena Deutschunterricht und Johanna fertigt als Gegenleistung für die Gastfreundschaft perfekt ausgeführte Strickwaren für das ganze Dorfan. So können sich diese Armen bis 1944 über Wasser halten. Ihre Angst nimmt aber jeden Tag zu. Die wenigen Nachrichten, die von den Verwandten eintreffen, sind alarmierend, oft tragisch. Es ist leicht gesagt: „Irgendwie werden wir da herauskommen.“ Aber wie? Auf der Rückseite des letzten von ihm erhaltenen Fotos, das ihn gemeinsam mit seiner Frau und einer Bäuerin bei der Arbeit mit der Hacke auf einem Kartoffelacker zeigt, hat Richard Löwy mit vier Worten seine Trostlosigkeit fest gehalten: „Mich freuts nicht mehr!“ Nach der unerwarteten Verkündung des geheim abgeschlossenen Waffenstillstands Italiens mit den Alliierten, am 8. September 1943, besetzte die Deutsche Wehrmacht die Halbinsel. Die Todesmaschine der „Endlösung“ setzte sich in Bewegung. Für die Löwys in Moena gab es kein Entkommen: In den Morgen