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strömten weiterhin Flüchtlinge ins Land. Einen Anstoß zur Flucht nach Italien gaben vor allem die dramatischen Ereignisse vom 9. und 10. November 1938, die unter dem Namen „Kristallnacht“ bekannt sind. Stark blieb auch der Zustrom von Flüchtlingen aus Österreich wegen der dort immer schärferen Verfolgung.’ Am 28. Januar 1939 sandte das Innenministerium ein Telegramm an die Präfekten, in welchem es hieß: „Auf höheren Befehl wird angeordnet, die Ausreise der Juden, die sich im Ausland niederlassen wollen, zu erleichtern.‘ Dieser Satz, so vieldeutig er auch war, bot den Präfekten die Möglichkeit, illegale Grenzübertritte zu begünstigen. Am 27. Februar 1939 wurde das sogenannte Touristenvisum eingeführt, das Juden die Einreise nach Italien „zum Tourismus, zur Einschiffung, zur Kur, zum Studium und zu Geschäftszwecken“ gestattete und sie zu einem Aufenthalt von anfangs bis zu drei und später bis zu sechs Monaten berechtigte.* Am 15. März 1939 wurde in der Presse mit einem wortkargen Kommunique verkündet, daß die Regierung die Aussetzung des Ausweisungsdekrets beschlossen habe.° Kaum einen Monat später, genauer am 5. April, wurden den Präfekten und der Grenzpolizei Instruktionen erteilt, „alle, deren Aufenthaltsrecht in Italien erloschen war, unter Angabe des vorgeschriebenen Fahrtwegs und -ziels an die von ihnen gewählte Grenze zu schicken, damit sie das nationale Gebiet auf eigenes Risiko und eigene Gefahr verlassen können.‘® Von diesem Moment an leiteten die italienischen Quästuren unter Heranziehung des jüdischen Hilfskomitees in Mailand (Comitato di assistenza agli ebrei in Italia — Comasebit) die Juden zu den Polizeikommissariaten der Städte an der Schweizer und französischen Grenze. Die Abschiebung nach Frankreich wurde als die geeignetste Lösung angesehen, weil die italienische Polizei schon im Frühjahr 1938 mit Erfolg die Abschiebung von Juden über die Berge oberhalb der italienisch-französischen Küste erprobt hatte. Das zu erreichende Ziel rechtfertigte in den Augen des Innenministeriums und der Polizei schon bald die dabei angewandten Methoden: Aktivitäten, die seit jeher als illegal galten, wurden auf der Stelle legalisiert; die Grenzmiliz, die eine strikte Kontrolle über das ihr unterstellte Gebiet ausübte, übernahm die Rolle von Schleusern im Staatsauftrag; die Flüchtlingstransporte der Schiffer und Fischer, die in der Vergangenheit nur widerwillig geduldet worden waren, galten jetzt als unverzichtbares Instrument; die Schiffer und Fischer wurden zu ihrer Tätigkeit ermutigt, und es wurde ihnen Schutz und Handlungsspielraum garantiert. Erst später, als ihre Tätigkeit nicht mehr als zweckdienlich angesehen wurde, wurden sie verfolgt. Die örtlichen Behörden behandelten die Juden wie „Pakete“ mit Anschriften im Ausland und die Schiffer und Fischer wie „Spediteure“. Die Polizei brachte beiden offene Verachtung entgegen. In der Sicht der Schiffer und Fischer war der Exodus der Juden eine Begegnung mit einem Elend und einer Verzweiflung, die sie selber gewohnt waren; für die Flüchtlinge bedeuteten die Fischer und Schiffer die augenblickliche Rettung, und für die Transportunternehmer war der Exodus eine wichtige, wenn auch nur vorübergehende Einnahmequelle. Der Trick der verdeckten Abschiebungen Die Anwesenheit in Ventimiglia von etwa hundert Juden im März 1939, die in großem Elend lebten und nicht nach Frankreich gelangen konnten, reichte aus, um erhebliche Probleme der öffentlichen Ordnung hervorzurufen. Der einheimischen Bevöl40 kerung bot sich ein trauriges Schauspiel, das sie tief beeindruckte und welches das Regime nicht länger dulden wollte. Die Episode legte in der Tat die mangelnde Vorbereitung der örtlichen Behörden auf den Exodus bloß, der nur in der Intention derer, die ihn in Rom am Schreibtisch entworfen und geplant hatten, ohne Zwischenfälle hätte verlaufen sollen. Das Innenministerium hatte sofort nach dem Eintreffen der Juden das Comasebit in Mailand angesprochen und von ihm eine angemessene finanzielle Beteiligung sowie die Ernennung eines ständigen Vertreters in der Provinz Imperia verlangt. Dies sollte zu einer zügigen und wirksamen Organisation der illegalen Transporte beitragen, um die wenigen in Ventimiglia versammelten Juden schnell zu entfernen. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, wonach die Polizei und die Zollbehörde eine strenge Aufsicht über die Transporte auszuüben hatten und die Durchführung der Abschiebungen über die Bergpfade und anderswo auf dem Landweg beim Polizeikommissariat in Ventimiglia verblieb.’ Die Anwesenheit nur weniger Juden war für die Entstehung der illegalen „Transportunternehmen“ nicht günstig, die ihre Tätigkeit erst vom Sommer 1939 an in großem Umfang entfalten sollten. In Anbetracht des dazu notwendigen Aufwands an Menschen und des zum Erwerb der Boote erforderlichen hohen finanziellen Einsatzes war eine Investition nur ertragreich, wenn eine große und beständige Zahl von illegal zu Befördernden vorhanden war. Im Frühjahr 1939 entwickelten sich die illegalen Transporte erst langsam, bis nach einigen Monaten relativer Ruhe die Vorfälle im Sommer die örtlichen Behörden in ernsthafte Schwierigkeiten brachten. Im Juli desselben Jahres brachten die Tageszeitungen in Nizza die Nachricht von der Beschlagnahme einiger Boote und der Verhaftung zahlreicher Fischer. Durch das in der französischen Presse erregte Aufsehen erhielt Rom schnell davon Kenntnis. Das Innenministerium beauftragte daraufhin den Generalinspektor für Öffentliche Sicherheit, Achille Peruzzi, sich sofort nach Ventimiglia zu begeben, um dort Nachforschungen anzustellen. Peruzzi war sich sehr bald im klaren, daß die Lage dem Präfekten von Imperia erneut entglitten war und so schnell wie möglich normalisiert werden mußte. Der Inspektor räumte ein, daß die Behörden alles in ihrer Macht Stehende getan hätten, um die Ausreise der Flüchtlinge zu erleichtern, daß sich die Lage aber verschlechtert habe „auf Grund des unkontrollierbaren Zuflusses ausländischer Juden nach Italien, die hier eine weitgehende Bewegungsfreiheit genießen“. In seinem Bericht formulierte er eine Reihe von Vorschlägen, die dazu dienen sollten, „den Quästuren zu verbieten, fortan nach Italien mit dem Touristenvisum eingereiste ausländische Juden nach Ventimiglia zu schicken, sie unter Polizeibegleitung an die Grenze der Einreise zu stellen und gegen die Organisatoren der illegalen Transporte vorzugehen.“ Die Abschiebung an die frühere österreichische Grenze löste beim Präfekten und Quästor von Imperia nicht geringe Bedenken aus, denn sie waren durch die entsetzlichen Berichte der Flüchtlinge über die im Hitler-Staat gegenüber den Juden angewandten Methoden gut unterrichtet, so daß menschliches Empfinden über bürokratische Routine die Oberhand gewann. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß einige Polizeibeamte, deren Verhalten sicherlich nicht untadelig war, über längere Zeit in eine Schmiergeldaffäre verwickelt waren, bei der wiederholt Untersuchungen gegen sie wegen des Vorwurfs der Bestechung durch Juden und Fischer durchgeführt wurden. Die Vorschläge Peruzzis wurden vorübergehend zurückgestellt und hatten deshalb keine Auswirkungen auf die örtlichen