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Im Herbst 1939 waren die italienischen Behörden entschlossen, einen erneuten Zustrom von Flüchtlingen zu unterbinden. Toselli aber setzte seine Tätigkeit fort, bis er verhaftet und aus Ventimiglia entfernt wurde. Seine Abwesenheit von der Küste dauerte nur kurze Zeit: Einige Monate später wurde er, diesmal in San Remo verhaftet, erneut von der Küste entfernt.'* Er entzog sich jedoch den gegen ihn getroffenen Maßnahmen, indem er nach Alassio übersiedelte, wo er noch einige Transporte organisieren konnte. Tosellis Preis für die Überfahrt einer Person schwankte zwischen 100 und 1.000 Lire. Wenn jemand kein Geld hatte, nahm er zur Bezahlung auch Schmuckstücke und andere Wertgegenstände entgegen. Der Vertreter des Comasebit in Ventimiglia, Ettore Bassi, hatte hingegen mit ihm einen festen Preis vereinbart, der kaum über 200 Lire lag (nach heutiger Kaufkraft ungefähr 600 Euro). Toselli wurde von den italienischen Behörden als ein ungewöhnlich verschlagenes und gerissenes Individuum beschrieben, das mit seinen Geschäften große Summen verdiente, die von ihm in kurzer Zeit verpraßt wurden und sich in Nichts auslösten.'° Eine neue Schleusergeneration: die Grenzwächter Die örtlichen Behörden übernahmen fast vollständig die Leitung und Kontrolle der illegalen Grenzüberschreitung auf dem Landweg. Es gelang ihnen dabei, die einheimischen Wegführer weitgehend auszuschalten. Von März 1939 an rief das Polizeikommissariat in Ventimiglia die Einsatzleiter der Grenzmiliz zusammen, um mit ihnen Zeit und Ort der Abschiebungen über die Gebirgspfade abzustimmen. In Ventimiglia verfügte die Polizei die sofortige Abschiebung aller Inhaber eines Touristenvisums und nahm sie fest, wenn sie sich schon zu lange in der Stadt aufhielten und noch nicht wußten, wie sie nach Frankreich gelangen sollten. Die Festnahme geschah sogar, während sie in den Kommissariaten ihrer Meldepflicht nachkamen. Alle wurden in jedem Fall unter Polizeibegleitung zu den Kasernen der Grenzmiliz in Ciotti und des Zolls in Piena gebracht.'” Diese Örtlichkeiten waren nicht zufällig gewählt worden: Sie lagen dicht an der Grenze, befanden sich in strategischer Position, und von ihnen gingen, damals wie heute, zahlreiche kleinere Pfade aus, die auf Menton und Sospel zuliefen. Die Kasernen und die entlang der Wegstrecke verteilten Hütten dienten als Sammelpunkt zur Verteilung der Juden auf die Pfade vor ihrer Abschiebung. Sie wurden offensichtlich im unklaren gelassen, daß die Pfade auf der französischen Seite der Grenze oft streng bewacht waren und es deshalb nicht selten vorkam, daß jemand dort der Polizei ins Netz ging. Wiederholt wurden Juden auf verschiedenen Wegstrecken zwischen der französischen und der italienischen Seite der Grenze hin- und hergeschoben. Zermürbt und erschöpft irrten sie manchmal, selbst Tage lang, zwischen zwei Grenzposten im Niemandsland umher. In einigen Fällen brachten sie die französischen Gendarmen nach Nizza, weil sie Mitleid empfanden oder weil sie außerstande waren, sie in Anbetracht der dichten italienischen Grenzüberwachung zurückzuweisen. Ein Beispiel für eine solche Odyssee bilden die kaum glaublichen Erlebnisse von drei Wiener Juden, den Brüdern Albert, Walter und Gustav Kurz. Nach ihrer Landung in Nizza mit dem Bootstransport vom 22. August 1939 wurden sie verhaftet und zur Abschiebung nach Italien zum Bergpaß Col de Bruis gebracht. Drei Tage später überraschten sie die Gendarmen zweimal beim Überschreiten der Grenze. Das erste Mal wurden sie in eine Kaserne abgeführt. 42 Dort wurde ihre Identität festgestellt, wurden sie verhört, verpflegt und danach auf der Stelle auf italienisches Gebiet zurückgeschickt. Am Tag darauf versuchten sie zum zweiten Mal, Sospel zu erreichen, wurden aber erneut verhaftet und nunmehr nach Nizza überstellt.'* Manch einer, der unsäglich Schreckliches durchgemacht hatte, riskierte beim Überschreiten der Grenze ganz konkret sein Leben. Dies war der Fall bei Ernst Fränkel. Er war auf Grund der nationalsozialistischen Verfolgungen aus Österreich geflohen und war im August 1939 in Ventimiglia ansässig geworden. Einige Monate später wurde er von den Behörden aufgefordert, die Stadt sofort zu verlassen. Vielleicht um Zeit zu gewinnen, konvertierte er im Januar 1940 zum Katholizismus und empfing in der Kathedrale von Ventimiglia die Taufe. Zwei Tage danach machte er sich auf den Weg an die Grenze, blieb dort aber zwischen den Felsen hängen und mußte um Hilfe rufen. Er fand den Beistand der französischen Gebirgsjäger, die ihn unter großen Schwierigkeiten retteten.' Ab Juli 1939 verlor der Landweg seine bisherige Vorrangstellung. Dafür waren verschiedenen Gründe ausschlaggebend: Vor allem wurden erst danach die „Transportagenturen“ gegründet, und zum anderen veränderte der massenhafte Zustrom von Juden nachdrücklich die Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppen. Vor diesem Datum waren Einzelpersonen in der Mehrzahl. Nach ihm befanden sich unter den Neuankömmlingen immer mehr ganze Familien, manchmal mit Kindern und noch öfter mit alten Menschen. Für die zuletzt Eingetroffenen lag die Entscheidung für einen Transport auf dem Seeweg auf der Hand, auch weil er weniger anstrengend war. Der Landweg war an vielen Stellen äußerst beschwerlich und bot nicht immer Aussicht auf Erfolg. Mit Glück aber war die Überquerung der Grenze nicht schwierig und auch nicht anstrengend, vor allem wenn man sich auf Wegführer verlassen konnte, die gegen Bezahlung seltener begangene Routen vorschlagen konnten. In dieser Hinsicht hat Harry Burger über seine Erlebnisse und die seiner Familie wie folgt berichtet: Wir verließen Wien im April 1939, ungefähr ein Jahr nach dem Anschluß. Dies war auch deshalb äußerst hart, weil die Familie ihr gesamtes Hab und Gut in den Händen der Nazis lassen mußte. Wir stiegen in einen Zug in Richtung Italien und überquerten die Grenze ohne größere Probleme... Meine Schwester Edith lebte mit ihrem Mann in Nizza, der einen falschen griechischen Paß besaß. Sie kam zu uns nach San Remo, um unsere Weiterwanderung vorzubereiten. Dazu hatte sie jemanden gefunden, der uns über die Grenze führen sollte. In der ersten Nacht fuhren wir im Auto über eine kurvenreiche Strecke in der Nähe der Berge. Als wir an einem bestimmten Punkt angekommen waren, hieß es, daß die Grenzwächter heute nicht die richtigen waren, und so kehrten wir nach San Remo zurück. In der folgenden Nacht wurden wir zu einer Villa mit einem Park gebracht, die genau an der Grenze lag. Man brauchte nur durch das Hauptportal in sie einzutreten und sie durch eine Pforte für die Bediensteten an ihrer Rückseite zu verlassen, und schon war man ohne große Mühe in Frankreich.” Die Tätigkeit des Hilfskomitees in Nizza Infolge der Lage in Italien nach dem Erlaß der Rassengesetze und der zunehmenden Zahl jüdischer Flüchtlinge, die von der ligurischen Küste nach Nizza kamen, wurde dort das Comite d’ Assistance aux Réfugiés (CAR) gegriindet.” Es hatte zum Ziel, den Fliichtlingen Beistand zu leisten und sich um alle Proble