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erkenne ich ihn: es ist der vor zwei Wochen abgereiste Besagliere, ein hiesiger Schlächter, ein breiter, kräftiger Bursche, damals strotzend und heute ein blasser Schatten. — „Was ist denn los? Woher kommen Sie?“ „Aus Rom... verloren... wir haben den Krieg verloren“, bricht es wie schluchzend aus ihm hervor und so als müßte ich ihm für alle Toten und Verwundeten die Antwort geben, spricht es aus mir mit seltsam innerlicher Stimme: „Ja, Ja.“ Und dazu nickt mein Kopf. Seit drei Tagen ist er unterwegs. Alle Bahnverbindungen sind unterbrochen. 150 km hat er zu Fuß gemacht... „Verloren... verloren... alle Flughäfen unbenutzbar, es fehlt an allem, keine Macht mehr, keine Mittel... Jemand muß ihn nach Rom gefragt haben... Er nennt Namen: eine Kirche, ein Campo, der Bahnhof und 10.000 Tote... Vielleicht habe ich mich verhört; ich verbarg mein Gesicht in den Händen, — das hatte ich nicht erwartet. Draußen hörte ich ihn noch erzählen: „Drei Tage haben sie die Toten ausgegraben, um sie zu bestatten. Die Römer haben die Nerven verloren... So geht es nicht weiter...“ — Damit gehe ich heim, erzähle den Leuten, die immer auf meinen Abendbericht warten, was es zu erzählen gibt, und lege mich nieder. — Um diese Zeit war Mussolini bereits zurückgetreten und Marschall Badoglio statt seiner berufen worden. Um 11 Nachts wurde das verlautbart, und morgens um 8, nach einer schlaflosen Nacht, haben wir es durchs Radio erfahren. — Wie oft habe ich in diesen letzten Nächten versucht, mir diesen Mann vorzustellen, seine Gedanken zu denken. Oft hat es mir geschienen, daß ich seinen bleichen blanken Schädel in Nervenblässe über einen Schreibtisch gebeugt sah, in Arbeit — ein gespenstisches Licht auf der Stirn, im Verlöschen. Und zwei Tage zuvor hatte ich gesagt: Wenn einer von den beiden noch menschliche Regungen hat — muß er die Konsequenzen ziehen und verschwinden. Wenn es vielleicht nicht ganz aus eigenem Willen geschehen ist — und das Zukünftige noch abzuwarten bleibt, — ist es doch typisch, daß es der Italiener war. Schließlich hat er zwei übergeordnete Mächte im Lande: den König und den Papst. Der ,,Unsrige“ ist alles zugleich, auch Gott oder wenigstens dessen bevollmächtigter Vertreter. Ich möchte nur wissen, wie die sich noch einen Sieg oder wenigstens das Ende ihres kriegerischen Unternehmens vorstellen. (Und noch wenige Tage zuvor hatte ich, wie so oft, über den 30jährigen Krieg nachgedacht und Vergleiche angestellt und mich gefragt: wer wohl hier Wallenstein und Gustav Adolf sind. Und da ist schon der Eine gestürzt.) Noch weiß man nicht, wie Hitler und Deutschland darauf reagieren. Sicher ist, daB immer neue Streitkrafte hierher nach Siiden kommen, und heute mittags, im Radio, hat man vor Geriichten gewarnt, die im Umlauf sind. Die Katastrophe und vielleicht auch das Ende, nahen mit riesigen Schritten. Nach dem Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943: Alternativen der Regierung Badoglio: Bruch mit Deutschland und Zusammenarbeit mit Alliierten oder Biindnistreue und Kampf gegen die vom Süden heranrtickenden Angloamerikaner. Ausschreitungen der deutschen Truppen. Hakel „sitzt mitten drin“. Jetzt haben sie hier die Regierung gewechselt. Der Mann, der 21 Jahre lang den Diktator gespielt hatte — vertrieben und einen alten General eingesetzt. Der Krieg geht weiter. Die Kriegsberichte zweimal täglich höre ich mit vielen anderen Männern und Buben, um einen Radiokasten stehend: Schlacht in Sizilien, getroffene Schiffe, Versenkungen von U-Booten, Transporten, abgeschossene Flugzeuge, Tote aus bombardierten Städten. Das sind die täglichen Nachrichten, die einander 58 gleichen und die man hinnimmt, wie alles, ohne sich davon etwas vorzustellen. Und was jetzt? Die Männer stehen in Gruppen, schwätzen. Keiner versteht das Geringste. Sie versuchen Geschäfte zu machen, Karten zu spielen; sie verstehen auch zu schießen, selbst zu sterben — aber was geschieht, das verstehen sie nicht. Und deshalb geschieht es mit ihnen und deshalb gibt es dieses allgemeine Schicksal. Die Situation ist diese: Italien kann und will nicht weiter. Von Süden her kommen die vereinigten Amerikaner und Engländer. Im Lande selbst und im Norden stehen gut bewaffnet und noch kriegstüchtig und -willig die Deutschen, noch mit den Italienern verbündet, die sie nicht aus dem „Spiel“ lassen werden. — Frage: wie machen sie den Frieden hier, den das Volk verlangt? Ist es möglich? Ohne weiteres? Nein. Ausgeschlossen. Der letzte Akt muß gespielt werden, — hier und überall. Möglichkeit für hier: Bruch mit Deutschland und Umstellung, Hilfe der Alliierten und Schlacht im ganzen Land (der erwartete Verrat von Anfang an). Schön; aber die Deutschen werden dem nicht zusehen und werden alles aufbieten sich hier durchzuschlagen. — Ganz in der Nähe, in Kalabrien, Salerno, stehen ca. 200.000 Mann Deutsche, wenn man sie von ihren Verbindungen abschneidet, sind sie noch immer stark genug hier zu vernichten, was ihnen in den Weg kommt, die Bevölkerung niederzumetzeln und ein Stück 30jähriger Krieg aufzuführen. Das ganze Land wird so in viele kleine Schlachtfelder geteilt. - Oder: Italien bleibt vorläufig an der Seite der Deutschen, so setzen die Alliierten ihre Angriffe auf die Halbinsel fort, bis sie endlich landen können, und es beginnt der Kampf. Kampf um Europa gegen die Deutschen, die eigentlich jetzt dessen Herren sind. Ich kann Glück haben und sie kommen nicht hier durch, nicht die und nicht jene; es ist nicht die Hauptstraße hier; aber es muß nicht so sein. Rückzug und Aufmarsch braucht jede Straße, die sich bietet — und was uns im Besonderen von den Nazis droht, ist klar. Erschrocken hat erst heute abend meine Signora mir erzählt, daß die deutschen Soldaten auf dem Durchmarsch in der Nähe drei Mädchen vergewaltigt haben, von denen eins gestorben ist. — Niemand weiß, wie die Nazis auf Mussolinis „Rücktritt“ reagieren werden. Die Post kommt hier zweimal wöchentlich, heute die Zeitung vom 23. Jetzt sitze ich mittendrin, es erspart mir nichts. Gut. Ich will auch das erleben. Krieg, Mord, Entsetzen. So lang es geht, werde ich schauen, hören und eintragen. Und wenn es einmal nicht mehr geschieht - so ist eben das Letzte geschehen, dann bin ich nicht mehr. Bis dahin aber sitze ich da, immer wieder, trage ein, was ich fühle, denke, höre, wie es kommt: Träume, Ängste, Sehnsüchte, Erinnerungen und Zukünfte und was ich mit dem Beginn dieses Krieges begonnen — mit meiner Flucht - soll nicht früher enden - als mit meinem Sieg oder meinem Ende. Soldatenszenen 1943 10. und 21. November 1943 Im Sommer 1943 zogen sich die geschlagenen Deutschen aus Sizilien und Kalabrien zuriick. Einige Kolonnen und sogar TankAbteilungen durchquerten das abseits gelegene Rotonda. Irgendwo, 18 km nördlich sollte sich angeblich ein Militärdepot befinden, nach welchem die Kraftfahrer öfters fragten, dann wurde ich als „il professore tedesco“ gerufen um Auskunft zu geben. Alle meine Erklärungen und Einwände, daß man mich als Österreicher und Juden nicht nennen soll, halfen nichts und so