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60 Deutschland, gute Nacht Die Falten sind zurechtgelegt, der Schnurrbart streng und gut gepflegt: der Mann, vor dem wir aufgewacht — o Deutschland, Deutschland, gute Nacht! Noch trag ich keinen gelben Fleck. Der Jud ist schuld. Der Jud verreck! O Schande, wer den Ruf erdacht — Drum: Deutschland, Deutschland, gute Nacht. Du größter Mann im großen Reich, dem nichts seit tausend Jahren gleich, wie hast du’s herrlich weit gebracht — o Deutschland, Deutschland, gute Nacht. Der Geist ward feig, der Geist ward schlecht, drum hat das Dumme sich erfrecht. Wir haben viel zu viel gelacht — drum Deutschland, Deutschland, gute Nacht. Wenn Tat zu Geist und Geist zu Tat, dann erst beginnt der neue Staat, dann erst bist Deutschland du erwacht — einstweilen: Deutschland, gute Nacht! Die Juden In ihren Zimmern, mutlos eingekerkert, gebeugten Hauptes über den Atlanten, so suchen nun die Juden, die Verbannten, da in den Straßen gell der Mob berserkert, sich nächste Zuflucht auf den Kontinenten. Und ihre Finger kreuzen über Meeren und tun, als ob sie schon gerettet wären, und tun, als ob sie sie schon immer kennten. Und Heimat ist der Boden unter Füßen, das Land, in dem sie wieder leben dürfen. Den Kopf voll Fragen und Entwürfen, ist jede Stadt ein Name, den sie grüßen. Sie wollen Arbeit und sie wollen Frieden und Haß und Dummheit helfen sie vertreiben. Sie sollen „Juden“ und im Ghetto bleiben, wie ekler Aussatz und wie Pest gemieden. Nun suchen sie ein neues Land der Leiden. Sie weinen über schäbigen Atlanten... Versiegt die Wasser — harfenlos die Weiden... Nachtmusik Der Männerchor der Bäume. Das Brausen und Summen tiefer Stimmen im Baß. Wortlose Melodien, gewaltig und eindringlich. Mir fallen nicht die entsprechenden Verse ein. Jetzt bin ich nur das wache Hören und das erregte Herz. Je nachdem der Wind anschwillt und verebbt, tönt es lauter und leiser, Dur oder Moll aus dem Olivenhain und aus den Zypressen. Ritornelle aus Italien Zitronenfalter an der Pforte den Weg eröffnet; hätt ich solche wie Schmetterlinge leichte Worte! Wer hat dies Schmuckstück hier geschaffen? Eidechsen huschen blitzlebendig, zuvor smaragdene Agraffen. Im Schatten des Jahrhundert-Alten, den Fuß auf seinen Wurzelfüßen, ist gut, am Mittag Ausschau halten. Wo in der Fremde kein Berater, da spricht der Baum die Heimatsprache und ist mir Bruder, Freund und Vater. Der Bergbach schallt im rechten Ohre, im andern Stille, es vereinigt das Lauschen sie zum süßen Chore. Die Kindheitsstimmen singen wieder, dem Heiland folgend wie dem Fänger — ihr Glück und Glaube sind die Lieder. Ameise schleppt in stetem Fronen Kiesblock um Block, so schufen Sklaven Felstempel einst den Pharaonen. Wegsteine aufwärts, steile Stufen, ich klettre unentwegt hinan, begleitet nur von Vogelrufen. O Blumennest, wer kennt die Namen? Sternkinder: blaue, weiße, gelbe, Sternmutter hütete die Samen. Da sickert hinter grüner Helle durch braunen Moosbart und Gestein geheimnisschauernd eine Quelle. Natur, so strafst du deinen Spötter: du nimmst den Flüchtling auf und schenkst ihm wieder seine alten Götter.