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te diesen Hitler sich austoben lassen. Und wenn die Juden dazu taugten, daß sich die Nazis an ihnen abreagierten, dann sollten sie nur weiter tun, was sie nicht lassen konnten. Die Welt sah weg und befand sich im Taumel. Es sollte nicht lange dauern, bis es sich zeigte, daß die Juden Hitler nicht genügten und der Angriff auf Polen jede Illusion zerstörte. Aber noch war es Frühling. In diesem milden, euphorischen Frühling 1939 gelang es auch meinen Eltern und mir, dem Zugriff der Nazis zu entkommen. Am 29. Juni stiegen wir um 17 Uhr in der monumentalen Stazione centrale von Mailand aus dem Zug — und waren frei. Ein achtjähriges Kind, entwurzelt, in einer neuen Welt. „O, nuovo mondo, tu m’appartieni“— ja, du neue Welt, du gehérst ganz und gar mir allein! Hier lachen und singen fröhliche und freundliche Menschen, hier ist der Himmel immer blau. Wieso konnte ich je anderswo gewesen sein? Wien, unser Stolz und unsere Freude, hatte uns verleugnet, verjagt, verraten. Diesen Schmerz, die Schmach, die Enttäuschung, die wortlose Verzweiflung konnte man nur verdrängen, indem man sich Hals über Kopf in Mailand, in Italien verliebte. Nur wer die Heimat verloren hat, weiß, was so ein Einschnitt bedeutet. Nichts tut mehr weh als das Exil. Da mußte man sich glücklich schätzen, ein Land gefunden zu haben, in dem es leichter war, das Unwiederbringliche zu vergessen. Dabei hatte niemand von uns je an Italien gedacht. Ich weiß nicht, ob der Anschluß meine Eltern überraschte. Mein Vater war ein sehr politisch denkender und an allem interessierter Mensch. Er durchschaute immer, was gespielt wurde. Aber in erster Linie war er ein Künstler mit nicht sehr viel Sinn für das Praktische. Meine Mutter war gut organisiert und konkret und sehr verantwortungsbewußt. An jenem berühmten Freitag abend kam mein Vater früher als sonst nach Hause. Er war blaß und gespannt und sagte meiner Mutter, sie sollte rasch den Radioapparat einstellen. So hörten wir Schuschniggs Abschiedsrede. Meine Eltern schienen vom „Gott schütze Österreich“ sehr beeindruckt. Ich verstand es nicht, wieso er einerseits der deutschen Gewalt weichen mußte, und andererseits sich mit einem „deutschen Wort“ verabschiedete. Aber ich hatte bereits vieles in meinem kurzen Leben nicht verstanden. Wieso man mit Kanonen auf Gemeindebauten schoß, wieso man Otto von Habsburg bejubelte und schwarz-gelbe Fahnen hißte, aber „Rotweiß-rot bis in den Tod“ brüllte. Wieso mein Bruder mit zwei Jahren an Diphterie sterben mußte, obwohl ich diese Krankheit hatte und der Arzt bei ihm nur eine Angina diagnostizierte... Ja, in Wien, in der schönen, der geliebten Stadt, war so vieles sonderbar gewesen. Abends entlang des Donaukanals war es finster, still und unheimlich. Das dunkle Wasser spülte so manches Geheimnis hinweg. Nicht ohne Grund war dies die Stadt von Sigmund Freud, widersprüchlich, herrlich — gefährlich. Und Jetzt war Hitler da. Es herrschte gewaltiger Jubel. Eine Euphorie, die keine Grenzen kannte, in der sich Freude und Gewalt vermischten und steigerten, zu metaphysischen Strömen von Leidenschaft und Haß. „Deutschland erwache. Juda verrecke!“, lautete die Parole. Die Gassen hallten wider, sie erzitterten unter den Stiefeln im Gleichschritt. „Razzien“ hieß das neue Wort. „Pogrom“ hatte es Jahrhunderte lang geheißen. Aber das so erleuchtete 20. Jahrhundert mußte ja für alles etwas Neues und noch Extremeres erfinden. Es erfand die ärgste Judenhatz der Geschichte. Man mußte weg, so rasch es nur ging. Das hatten meine Eltern sofort begriffen. Nach New York, zu den dort seit vielen Jahren lebenden Eltern und Geschwistern meines Vaters. Affidavit. Konsulat. Ärztliche Untersuchung. Der Konsul der Vereinigten Staaten persönlich ruft uns auf: „Mister Aisik Katsch“ (Isak Koch) nennt er meinen Vater. Ich will nicht mehr nach Amerika. Ich hasse es, in ein fremdes Land zu fahren, wo man meinen Familiennamen so ausspricht... Kristallnacht. Ohne „Steuerunbedenklichkeitsbescheinigung“ keinen Paß. Die Steuer nimmt uns alles weg. Zur Aufbringung des Geldes für die „Steuerschulden“ läßt die Behörde alles verkaufen. Sogar der Linoleumbelag in der Küche und die Betten im Schlafzimmer werden uns ganz ,,legal“ weggenommen. Die Wohnung ist kahl, kalt und leer. Prinz Eugen-Straße, Palais Rothschild. Anstellen. Paß. Aber Papa wird eingesperrt. Mama holt ihn nach vier Tagen heraus. Kein Visum für Amerika. „Quote“ heißt das neue Vokabel. 5 Jahre Wartezeit! Verzweiflung. Ich gehe weiterhin normal in die Schule — seit dem Kindergarten besuche ich die „Castellezgasse“. Dort sind wir unter uns, noch gibt es da keine Probleme. Im Frühjahr gehe ich auch wieder spazieren mit der Mama in der Prater-Hauptallee, mit Dirndl und weißen Stutzen. Das ist 1939 für Juden strengstens verboten. Meine Mutter hat Mut und läßt sich nicht unterkriegen. Jeden Tag holt sie Bekannte und Verwandte aus der Haft heraus. Durch Furchtlosigkeit, die aus der Unerfahrenheit kommt, und weil sie Menschen trifft, die ihr dabei helfen. Es sind doch nicht alle Nazis in Wien. Das neue Ausreiseziel heißt Kuba. Die Schiffskarten sind schon da. Aber wieder klappt es nicht. Da öffnet Mussolini die Grenzen. Mit einem einzigen Koffer fahren wir ab. Am Südbahnhof bekomme ich einen Weinkrampf und heule und brülle rückhaltlos bis nach der Abfahrt des Zuges. Ein Schaffner, der letzte österreichische Mensch, gibt uns ein Coupe, stellt den Koffer in die Mitte, damit ich mich darauflegen kann und meine Eltern je eine Bank für sich zur Verfügung haben. Er zieht die Vorhänge zu und verschließt die Tür. In der Nacht bringt er uns seinen Mantel, um mich damit zuzudecken. Als ich aufwache, ist es Tag, und alles ist vorbei. Der Mantel ist weg — Österreich ist dahin... Die Italiener sind fröhlich, unpolitisch, immer hilfsbereit und tolerant. Niemand weiß, was Antisemitismus heißt. Es herrscht Ordnung, und scheinbar funktioniert alles glänzend. Die Menschen sind zufrieden. Die Juden hatten kürzlich, seitdem sich Mussolini mit Hitler auch offiziell verband, kleine Benachteiligungen hinnehmen müssen. Von Angst oder systematischer Verfolgung war jedoch keine Rede. Niemand machte irgendwelche Unterschiede von Mensch zu Mensch wegen Abstammung, Religion oder Muttersprache. Wenn man von jenseits der Alpen kam, konnte man es kaum glauben, daß so ein Paradies Wirklichkeit war. Die Juden in Mailand verstanden die Emigranten nicht. Sie schienen niemals etwas von Dachau oder Buchenwald gehört zu haben — und wenn ja, wie konnten sie das begreifen? Man hatte so eine Art Hilfsorganisation ins Leben gerufen, um den ärmeren Flüchtlingen ein wenig zu helfen. Delasem hieß der Verein. Ich glaube, er war nicht sehr effizient, aber dafür sehr unbürokratisch. Die deutschen, österreichischen, ja mitteleuropäischen Juden unterschieden sich so sehr von den italienischen Glaubensbrüdern, daß schon aus diesem Grund eine Verständigung schwierig war. Um die Delasem kümmerten sich daher auch eher die aschkenasischen Juden, die schon länger in Italien lebten und dort etabliert waren. Die meisten aschkenasischen Juden wohnten im Bezirk der Porta Venezia, in den vielen kleinen Gassen oder schönen breiten Alleen zwischen Piazzale Oberdan und Piazzale Loreto. Am Corso Buenos Aires hatten sie viele Geschäfte, dort befand sich auch die einzige Bäckerei von Mailand, in der man unser gewohn67