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tes Schwarzbrot erhielt. Alle Emigranten pilgerten dorthin und in die koscheren Restaurants (eines davon eine Art Ausspeise, von den Hilfsorganisationen subventioniert), die sich in der Gegend befanden, wo man die uns bekannten Speisen, von denen die italienischen Juden keine Ahnung hatten, bekam. So war der Bezirk zu einem kleinen Mitteleuropa geworden. Man war dort mehr oder weniger unter sich, und das erleichterte die Leiden des Exils, vor allem die Unkenntnis der Landessprache, die man sich nur mühsam erwarb, um zumindest in den kleinen Dingen des Alltags nicht vollkommen unbeholfen zu sein. Die „Pensione Villa Flora“ in der Via Carlo Poerio, unweit vom Corso Buenos Aires, war fast ein Emigrantenasyl und daher voll belegt. Ein Kabinett war noch frei, zu klein für drei Betten, aber meine Eltern waren froh, es gefunden zu haben. Das Zimmer war klein, aber das Haus sehr schön und die Besitzer freundlich. Ein herrlicher Garten gehörte dazu und eine große Dachterrasse. Ich fühle mich wohl. Der Alptraum ist vorbei. Aber reden kann ich hier nur mit den Erwachsenen, den anderen Emigranten. Einige sind nett und kinderliebend, andere nervös und abweisend. Mailand ist herrlich. Breite Straßen voll blühender Bäume, ganz moderne Straßenbahnen, Wolkenkratzer, viel Marmor, Licht, Luft und Sonne. In der Nähe der große, gepflegte Stadtpark, die Giardini Pubblici, mit dem Tiergarten. Dort gehe ich auf Erkundungstouren und fahre Auto. Ein kleiner hellblauer Blitz, die Nachbildung des Silver Arrow von Rolls Royce für Kinder. Niemand ahnt, wie stolz ich bin: Die Welt gehört tatsächlich mir. Auch die Erwachsenen treffen sich gern in diesem großen Park. In Mailand gibt es keine Kaffeehäuser, also sitzen sie auf den Bänken und politisieren. Gerüchte jeder Art werden kolportiert, Nachrichten weitergegeben und kommentiert. Menschen, die sonst keiner normalen Beschäftigung nachgehen können, herausgerissen aus ihren Berufen und ihrer natürlichen Umgebung, oft fern von ihren Liebsten, ohne Aussicht und ohne Zukunft, versuchen ihren Zustand zu deuten und die Welt zu verstehen. Stoff zum Reden gibt es genug. Die Gerüchte, die verbreitet werden, heißen „Bonkes“. Bald glaubt niemand mehr dem anderen, auch wenn gewisse unfaßbare Nachrichten, wie der Hitler-Stalin-Pakt, der Wahrheit entsprechen. Aber wer versteht schon so gut Italienisch, um wirklich zu wissen, was in den Zeitungen steht und im Radio gemeldet wird? Jeder will alles besser wissen, man wetteifert um die Authentizität der Berichte. Meinem beschäftigungslosen Vater, einem ausgesprochenen Feind des Müßiggangs, der ihm jedoch für viele Jahre bevorsteht, gehen sogar seine täglichen Schachpartien in seinem Wiener Stammcafe ab. Er ist kein Freund der Politisiererei auf Parkbänken und geht lieber mit mir spazieren, um die Architektur der lombardischen Metropole zu studieren, die ihn sehr beeindruckt, weil er selbst immer sehr modern gedacht hat, auch in Wien, wo man lieber in der Tradition erstickte. Schon bei der Ankunft hatte ihn der Bahnhof, dieses Ungetüm aus weißem Marmor, die Fassade, die aussah wie ein gigantisches Opernhaus aus dem Fin de siecle, sehr beeindruckt. Nun kann er sich nicht sattsehen am fortschrittlichen Baustil der hohen Wohnhäuser, an der Qualität der Ausstattung und der Materialien. Dazu kommt die Altstadt mit dem noch gut erhaltenen und gepflegten Stadtkern. Der enorme Dom, die Arkaden, die Galleria Vittorio Emanuele, die Scala mit dem schön gestalteten Vorplatz, alles voller Schick, Stil und Eleganz. Ich begreife nicht, wie neben soviel Prunk gerade der schlichte, unscheinbare Bau das berühmteste Opernhaus der Welt sein kann, aber mein Vater bewundert die Einfachheit und Harmonie des klassischen Ge68 bäudes. So lerne ich in Mailand, während die abendländische Zivilisation dabei ist, zu zerbröckeln und in Abgründe zu fallen, die ärger sein würden als die finsterste Barbarei, die Grundsätze der Kunst und der europäischen Kultur kennen. Und ich gehe viel ins Kino. In Italien gibt es kein Jugendverbot, das Kino ist das billigste und populärste Vergnügen. Die italienische Filmindustrie produziert Schmachtfetzen jeglicher Art, die dem leichtlebigen, optimistischen Zeitgeist entsprechen und diesen Trend noch mehr aufheizen, denn es liegt im Sinn der faschistischen Propaganda, Glück und heile Welt vorzugaukeln. Die Menschen sind gerne Opfer dieser Täuschung, oft als Ersatz für ihr eigenes schweres Fortkommen, in einem Land, in dem alles, was nicht glänzt und vollkommen ist, sorgsam zugedeckt wird. Ich ziehe schon damals Hollywoodfilme vor, liebe den Wilden Westen und vor allem Gary Cooper. Auch ohne 5Zimmer-Wohnung, Schwimmen, Turnen, Radfahren, Reiten, Klavier- und Englischunterricht - ich würde das alles nie wieder haben — scheint mein Leben völlig normal. Italienisch lerne ich aus der Luft, es fliegt mir nur so zu. Bald leite ich in der Villa Flora alle Angelegenheiten, die mit den deutschsprachigen Mietern zu tun haben. Ich dolmetsche für sie, und da ich mich mit den Besitzern, die einen etwas älteren, hübschen Sohn haben, sehr angefreundet habe, kommen alle mit ihren kleinen und größeren Problemen zu mir. Das hilft mir aber nicht, mein eigenes Problem mit der Schule zu lösen. Der Sommer geht vorbei, und im Herbst muß ich zur Schule. In Wien hatte ich die zweite Volksschulklasse abgeschlossen, und ich müßte jetzt also in die dritte Klasse aufgenommen werden. Auch in Mailand gibt es eine jüdische Schule, wie einst in Wien. Aber sie liegt weit entfernt, in der Via Eupili, und man nimmt dort keine Emigrantenkinder auf — obwohl jüdische Kinder nicht mehr in andere öffentliche Schulen gehen dürfen. Ich werde in die Via della Spiga, im Stadtzentrum, verwiesen. Dort werden die jüdischen Kinder gesondert nachmittags unterrichtet. So sorgen nunmehr die „Nürnberger Gesetze“ auch in Italien für Rassentrennung. In der Via della Spiga komme ich zum ersten Mal mit italienischen Glaubensbrüdern in Kontakt: Lehrkörper und Schüler. Obwohl ich fast perfekt Italienisch spreche, akzeptiert man das nicht und steckt mich wieder in die erste Klasse. Ich fühle mich gedemütigt und deplaciert. Ich bin für mein Alter überdurchschnittlich groß und durch die Umstände der Zeit viel reifer als die einheimischen Kinder, und so erlebe ich durch das Unverständnis und die Amtssturheit unserer eigenen Menschen meine erste Enttäuschung in Italien. Die Erwachsenen sind alle mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten — der Überfall Deutschlands auf Polen und der Beginn des europäischen Krieges — so beschäftigt, daß ihnen die Leiden eines Kindes kaum auffallen. In Italien ist Frieden, tiefer Frieden, einstweilen sogar ohne Säbelrasseln. Aber wie lange noch und was dann? Als man merkt, daß ich wirklich nicht in die erste Klasse passe, verspricht man mir, mich im nächsten Schuljahr in die dritte aufsteigen zu lassen. Ich bin in der dritten sehr froh und eine gute Schülerin, aber die Freude dauert nicht lange. Im Jänner 1941 werde ich mit meiner Mutter in einem Dorf in Kalabrien interniert. Nach Italiens Kriegsbeitritt entfernt man brutal die Emigranten aus den Städten des Nordens und sondert sie ab, in den unwegsamsten Regionen des Landes. Fünfzig Jahre später bin ich an der Schule in der Via della Spiga vorbeigegangen. Das große Gebäude ist unverändert. Vielleicht ist auch der Verputz noch derselbe wie damals. Ich stand am Gitter, beim Tor in der Via Santo Spirito, wo wir am