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Vorabend brausend, brüllend, laufend, voller Übermut und Freude aus der Schule kamen. In der schmalen Gasse warteten unsere Mütter — das war jedes Mal ein großes Wiedersehen. Viele, viele schöne, liebliche, gescheite jüdische Kinder, die nicht wußten, was auf sie wartete. Bevor ich Mailand verlassen mußte, hatte ich mir in einem kleinen Taschenkalender die Namen aller Kinder meiner Klasse aufgeschrieben. Gute, alte jüdisch-italienische Familiennamen, die auf große Familien hinwiesen, die stets ihrem Land, aber auch dem jüdischen Volk in Ehren gedient hatten. Und nun wurde mir plötzlich bewußt, daß ich nach dem Krieg keinen dieser Namen wieder gehört hatte... Die schönen, die lieben, die lustigen Kinder, die stolzen, hoffnungsfrohen Mütter — sie waren alle, alle dahin. Aber das Schulgebäude in der Via della Spiga steht da— unverändert. Wer kann unseren Schmerz, unseren Zorn, unsere Trauer messen und begreifen? Vor genau vierzig Jahren, im Juli 1943, warteten im kalabrischen Dorf Spezzano della Sila (auch Spezzano Grande genannt) etwa ein Dutzend jüdischer Familien, die sich dort als Zivilinternierte befanden (Internati civili di guerra hießen sie in der Amtssprache), auf ihre Strafversetzung in das nahegelegene Konzentrationslager Ferramonti-Tarsia. Als sich Italien, auf Grund des Stahlpakts, dem Hitler-Krieg gegen Frankreich anschloß, begannen die Behörden die aus Deutschland und Österreich gekommenen Juden, denen Mussolini bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als einer der wenigen Staatsoberhäupter der damaligen Zeit Asyl und Zuflucht in seinem Lande gewährt hatte, von den Großstädten auszuweisen und sie in kleine Dörfer, meistens im Süden, zu verschicken. Diese Art der Zwangseinweisung in entlegene und unwegsame Ortschaften war seit der Machtübernahme durch den Faschismus in Italien eine wohlbekannte Praxis, die, bevor sie die Juden betraf, gegen Regimegegner und „Parasiten“ laufend angewendet wurde. In Spezzano della Sila befanden sich seit Herbst 1940 mehrere jüdische Familien, die aus Deutschland nach Mailand geflohen waren. Das an der anläßlich eines Besuches des Kronprinzenpaares feierlich eröffneten, modernst gebauten Verbindungsstraße zwischen der Provinzhauptstadt Cosenza und dem Erholungsgebiet der Sila gelegene Dorf hatte für die jüdischen Internierten, die durch Müßiggang, Monotonie und widerwärtige Lebensumstände zermürbt und verdrossen, allerlei ihnen untersagten Tätigkeiten oft heimlich, meist unverhüllt nachgingen — auch aus reinster Existenznot, um sich ihren Lebensunterhalt halbwegs zu sichern —, nie viel Sympathie aufgebracht. Wohl wurden im Lauf der Jahre zwischen einzelnen Einheimischen und deren jüdischen Nachbarn, die noch dazu den Nachteil hatten, „tedeschi“, also Deutsche zu sein, was in Italien ganz im Gegensatz zur offiziellen Politik äußerst unbeliebt war, persönliche Beziehungen geknüpft, aber im allgemeinen war die Atmosphäre, nicht wie normalerweise im italienischen Süden üblich, kühl geblieben. Als die afrikanische Front zusammenbrach und der Krieg immer näher kam, was sich durch heftige Bombenangriffe auf Cosenza und eine immer ärger werdende Versorgungslage bemerkbar machte, wollte der Bürgermeister von Spezzano die Verantwortung für „seine“ Internierten nicht länger tragen und stellte in Rom den Antrag, ihn von den lästigen Juden, die nur Probleme schafften, zu befreien und sie in das Konzentrationslager Ferramonti einzuweisen. Als die Internierten das erfuhren, waren sie zutiefst erschüttert. In der bukolischen Welt Kalabriens, in der die Zeit vor etlichen Jahrhunderten stehengeblieben war und in der man ein beschauliches, naturverbundenes Leben führte, von den Geschehnissen ab- und ausgeschlossen, ohne viel von dem zu wissen, was in Europa tatsächlich vorging, einiges heimlich von Radio London erfahrend, bangend, ahnend, aber noch nicht vermutend, was mit unserem Volke dort jenseits der Berge wirklich geschah, glich die Verbannung nach Ferramonti einem unermeßlichen Unheil. Sie hatten bereits ihre Verschickung in die karge, gottvergessene Gegend, in die Isolation des südlichsten Zipfels des italienischen Festlandes als Katastrophe empfunden, und der Gedanke an die sumpfige Ebene von FerramontiTarsia, wo die Menschen hinter Stacheldraht in primitive Baracken gepfercht — wie man gehört hatte —- an Malaria dahinsiechten, ließ sie erschauern. Sie ahnten damals noch nicht, daß ihre so beklagte Verschickung nach Kalabrien, ja selbst nach Ferramonti, ihrer Rettung gleichkam, denn nur wenige Monate später, als die Deutschen jene Teile Italiens besetzten, die von den alliierten Truppen noch nicht eingenommen worden waren, wurden alle Juden, die wir jahrelang beneidet hatten, weil sie im Norden in der Zivilisation verbleiben konnten, deportiert und in Auschwitz ermordet. In meinem Dorf, in Celico, lebte man wie auf einem anderen Planeten. Obwohl an derselben Sila-Straße gelegen, nur eineinhalb Kilometer von Spezzano della Sila, hatten die Einwohner uns und die anderen Internierten, die es hierher verschlagen hatte, mit offenen Armen aufgenommen. Sogar die Behörden waren ständig um unser Wohlergehen bemüht. Obwohl das Gesetz vorschrieb, daß Internierte die Dorfgrenze nicht überschreiten durften, chauffierte der Polizeikommandant persönlich meinen Vater in die entlegenen Wälder der Sila, zu den reichen Holzhändlern, damit er ihnen Pläne für neue Villen entwerfe. Ebenso ließ er ihn Pläne für eine Kaserne für seine Carabinieri erstellen. Der Gemeinderat beschloß, daß Celico unbedingt einen großen Kinopalast benötigt, nur um meinem Vater, der unentwegt auf kleinen Papierzetteln Pläne entwarf, gegen die Langeweile und um seiner Phantasie freien Lauf zu geben, eine effektive große Aufgabe zu stellen. Mir war Celico zur Heimat geworden. Ich durfte nicht zur Schule gehen, und das war herrlich. Ich liebte die Landschaft und wuchs auf, so wie diese war, wild, störrisch und unberechenbar, verbunden einzig und allein mit der dort besonders seltsamen, rätselhaften Natur. Der Abtransport unserer Leidensgenossen aus Spezzano nach Ferramonti war für den 26. Juli. 1943 festgesetzt worden. Sie sollten mit der Bahn, die jeden Morgen die Dörfer abklapperte, um die Arbeiter in die Stadt zu befördern, und die für die Strecke von 18 Kilometern oft länger als zwei Stunden benötig69