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Vierzig Jahre danach hat sich das italienische Judentum von der ihm zugefügten Dezimierung nicht erholt. Viele, viele schöne Gemeinden sind verschwunden und erloschen. Zerstört ist das kulturelle Gut einer zweitausendjährigen Tradition und Geschichte. Unser Volk ist dahin. Mit Mühe versucht man, die Spuren der Vergangenheit halbwegs zu erhalten. Aber was so organisch gewachsen war, kann nicht künstlich weiterleben. Wie Jeremias möchte man mit der Stammesmutter Rahel ihre Kinder beweinen, die nicht mehr sind. Das Ghetto von Venedig, ein wahres Juwel jüdisch-italienischer Zivilisation, verfällt immer mehr, und der barbarische Eingriff in die vorhandene Bausubstanz schreit zum Himmel. Fenster, Tore, Bögen werden abgerissen und durch billigstes Material geschmacklos ersetzt. Unbewohnte Häuser verfallen zur Gänze. Die Restaurierung der wundervollen Synagogen geht so langsam vor sich, daß während man an einer Stelle restauriert, die andere ersatzlos verfällt. In der italienischen Bevölkerung, die früher immer human, solidarisch, tolerant, menschenfreundlich und daher niemals antisemitisch war und während der Nazizeit den Juden, ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit, bedingungslos half, ist eine Haltung aufgekommen, die es nicht gab, als uns dieses Land mit Liebe und Freundschaft Obdach bot und unser Leben rettete. Die pseudo-linke und die gegen Israel gerichtete Propagandamaschinerie hat in den Herzen der Menschen, die uns so gut gesinnt waren, sehr viel Schaden angerichtet. Erst heute, da nur wenige Juden in Italien verblieben sind, gibt es dort einen Antisemitismus, der oft Formen physischer Gewalt annimmt. Vor 1943 gehörte auch die Insel Rhodos zu Italien, und über 7.000 Juden lebten dort, seit sie vor Spaniens Inquisition geflüchtet waren. Die schöne Synagoge legt Zeugnis ab von ihrem Stand und ihrem Glauben, aber heute gibt es auf Rhodos nur eine einzige Jüdische Frau aus der Gemeinde von damals. Sie trägt eine Nummer von Auschwitz am Arm und die Not ihres Volkes im Herzen. Sie hütet die Synagoge und ist allein. Ihr Mann, der mit ihr diesen Dienst versah, ist vor einiger Zeit verstorben. Sie sagt: „Die Leute hier sind nicht freundlich: ja, oft spürt man, sie hassen uns; es ist besser zu schweigen.“ Als ich sie vor drei Jahren zum ersten Mal sah, fragte ich sie: „Wieso sind Sie überhaupt hierher zurückgekommen?“ Und sie antwortete: „Ja, wohin sollte ich denn gehen? Das ist doch meine Heimat, hier bin ich geboren, hier kenne ich jeden...“ Jetzt schauen sie die, die sie kennt, oft scheel an — weil sie aus Auschwitz zurückgekommen ist... So ist das eben heute, vierzig Jahre nach jenem fernen Sommer. Und Rhodos erwähne ich, um den Kreis zu schließen, denn von Rhodos waren 1942 die Schiffbrüchigen des „Pentcho‘ nach Ferramonti verschickt worden: etwa 500 Menschen, die versucht hatten, von Bratislava aus illegal nach Palästina zu flüchten, aber nur bis zur unbewohnten griechischen Insel Kamilanisi gekommen waren und dort von einem italienischen Kriegsschiff gerettet und in ein Lager nach Rhodos gebracht wurden. Es war das Verdienst der Leute vom „Pentcho“, daß in Ferramonti ein kleiner Judenstaat entstanden war und in der Folge mit ihnen so viele Menschen ein neues Leben in Palästina finden konnten, während in Europa unser Volk unterging. Einleitend resümiert Christiane Kohl, Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS hätten nach der Besetzung im September 1943 in weit mehr als 600 Dörfern und kleinen Städten gewütet, ihnen seien rund 10.000 italienische Zivilisten, die keine Partisanen waren, zum Opfer gefallen. Dazu kamen Massenerschießungen italienischer Soldaten, so auf der griechischen Insel Kephallonia, wo 5.000 Italiener, die den Deutschen Widerstand geleistet hatten, erschossen wurden, nachdem sie sich ergeben hatten. Und 650.000 italienische Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert, wo viele von ihnen umkamen oder willkürlich getötet wurden. Gleich nach der Befreiung Italiens durch die Alliierten wurden umfangreiche Ermittlungen über diese Verbrechen angestellt. Dann ließ man die 2.000 Akten verschwinden. Jahrzehntelang ruhten sie in einem mit den Türen zur Wand gedrehten Schrank in der obersten italienischen Militärstaatsanwaltschaft in Rom. Der Schrank hatte sich nicht von selbst umgedreht, sondern war auf höhere Weisung verrückt worden: Man wollte die Waffenbrüderschaft mit dem neuen NATO-Partner BRD nicht durch lästige Erinnerungen an Geschehenes in Frage stellen. Eines der schlimmsten Kriegsverbrechen ereignete sich in dem Bergdorf Sant’ Anna di Stazzema, das zwischen Carrara und Lucca in den Apuanischen Alpen liegt: Hier wurden wahllos alle Menschen, insgesamt 560, die angetroffen wurden, darunter auch mehr als 110 Kinder ermordet. Das Verbrechen veriibte die 5. Kompanie des II. Bataillons im Regiment 35 der 16. SS-Division. Der Bataillonskommandant war der Osterreicher Anton Galler, gelernter Bäcker, geboren 1915 in Lilienfeld (Niederösterreich). 1932 schloß er sich der Hitlerjugend an, ging dann nach Deutschland, erlangte 1935 die Reichsbürgerschaft, wurde im KZ Dachau und 193941 als Chef einer Polizeikompanie in Polen eingesetzt. 1943 wechselte er zur 16. SS-Panzergrenadierdivision, die ab Frühsommer 1944 in Italien kämpfte und mordete. Nach Kriegsende versteckte er sich bei St. Pölten, flüchtete nach Kanada, wo er in einer Uranmine arbeitete. Mitte der 1960er Jahre kehrte er wieder nach Österreich zurück, mit Wohnsitz in Salzburg war er Personaleinteiler an entlegenen Baustellen. In den 1980er Jahren übersiedelte er nach Spanien, nach Denia an der Costa Blanca, wo eine ganze Kolonie von ExSSlern residierte, u.a. zeitweise auch Otto Skorzeny. Dort starb Galler 1995. Die Akten des umgedrehten Schrankes in Rom kamen 1994 im Zuge der Ermittlungen gegen Erich Priebke, verantwortlich für die Geiselerschießungen in den Ardeatinischen Gräben, wieder zum Vorschein. Seitdem laufen Ermittlungen und werden Prozesse vorbereitet. Einer von ihnen wurde am 24. Juni 2005 abgeschlossen. Das Militärgericht von La Spezia verurteile zehn ehemalige SSler in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft, unter ihnen die Offiziere Gerhard Sommer, Alfred Schönenberg und Ludwig Sonntag. Deutschland liefert seine Kriegsverbrecher allerdings nicht aus, sondern ermittelt selber gegen sie. So z.B. die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit 2002 im Falle Sant’Anna. Die Ermittlungen sind gründlich, vertraulich und ziehen sich in die Länge. Sie werden vermutlich nicht abgeschlossen sein, bevor nicht der letzte Beschuldigte gestorben oder zumindest verhandlungsunfähig ist. Deutschland schützt seine Kriegsverbrecher, indem es gegen sie ermittelt. Christiane Kohls aufeiner Artikelserie in der Süddeutschen Zeitung beruhendes Buch stellt einen Reiseführer anderer Art für österreichische und deutsche Italien-Touristen dar. Über die Mühlen der Gerechtigkeit, die in Deutschland meines Erachtens nur zum Schein mahlen, spricht Christiane Kohl mit unbegreiflicher Zuversicht. — K.K. Christiane Kohl: Der Himmel war strahlend blau. Vom Wüten der Wehrmacht in Italien. Wien: Picus 2004. 160 S. 71