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Kein Denkmal der Nachkriegszeit wurde so kontroversiell aufgenommen bzw. diskutiert wie das Denkmal für die sechs Millionen ermordeten Juden Europas. Weder sogenannte Kriegerdenkmäler noch Heldenstatuen sonstiger Couleur haben so viel Ablehnung erfahren wie es bei diesem Denkmal der Fall war und eigentlich immer noch ist. Selbst innerhalb der jüdischen Bevölkerung ist man sich nicht einig, ob dieses Denkmal so gewollt ist oder nicht. Nun, ich war zur Eröffnungszeit in Berlin, da ich Freunde aus Israel treffen wollte, die zur Eröffnungsfeier eingeladen waren. Ich stand dann allerdings einen Tag nach der Eröffnung vor verschlossenen Toren, da es noch eingezäunt und wegen Aufräumungsarbeiten geschlossen war. Hatte aber das Glück, als Wiener Politikerin ausnahmsweise hinein zu dürfen. Auf 19.073 m? Fläche fügen sich 2.711 Stelen im Höchstmaß von 4,7 m bis zu einem Meter zu Gängen. Das Durchschreiten der Reihen kaum merklich geneigter Pfeiler, die aufschwankendem Boden zu stehen scheinen, erzeugt ein Gefühl der Beklemmung und Unsicherheit. Ich ging nun allein durch diese Stelengänge, die wie Schluchten in ihren höchsten Ausmaßen über einem zusammenschlagen, und obwohl man am Ende dieser vielen Gänge immer das Tageslicht sieht, stellt sich ein Gefühl der Ausweglosigkeit ein. Ich war bestrebt, diese Schluchten von Betonpfeilern wieder zu verlassen. Das Bild eines namenlosen Friedhofes drängt sich auf, und selbst wer ratlos davor steht, da kein weiterer Hinweis auf die Bedeutung dieses Stelenwaldes hindeutet, wird nicht unberührt vor diesem monumentalen Feld zu Stein gewordenen Gedenkens stehen. Unter diesem Feld der Stelen befindet sich ein Informationszentrum, das sehr eindrucksvoll gestaltet ist und mit modernen Mitteln die Geschichte des Holocaust in Bild und Schrift dem Besucher vor Augen führt. Dieses „Denkmal für die ermordeten Juden Europas” ist zugleich Mahnmal und Museum. Ich habe in Berlin viel Lob aber auch viel Kritik gehört, was dieses Mahnmal betrifft. Wie schon erwähnt, gibt es selbst innerhalb der jüdischen Bevölkerung widersprüchliche Meinungen darüber, ob diese Form des Gedenkens zur Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte etwas beitragen kann. Ein immer wieder gehörter Einwand ist das viele Geld, das dieses Mahnmal verschlungen hat. Zugegeben, 27,6 Millionen Euro scheinen in Zeiten wirtschaftlicher Verdrossenheit und vieler Arbeitsloser in Deutschland viel Geld. Aber leider ist jetzt erst die Zeit reif geworden fiir ein Mahnmal, da in Zeiten des Wirtschaftswunders niemand an ein Gedenken fiir sechs Millionen jiidischer Opfer einer verbrecheri74 schen Vernichtungspolitik der Nazis gedacht hat — obwohl Deutschland zum Wiederaufbau einer jiidischen Gemeinde wesentlich mehr beigetragen hat als die österreichische Politik. Ich bin der Meinung, Deutschland ist es den sechs Millionen ermordeter Juden ebenso wie den Überlebenden des Holocaust schuldig — wie es im übrigen auch Österreich wäre in „Wir waren Nachbarn“ Form eines Holocaust-Museums — ein Denkmal zu setzen, das dem Ausmaß der Schuld gerecht werden muss, und ich meine, dass dieses Denkmal dem entspricht. Ich habe tiefbeeindruckt und erschüttert von den Dimensionen des Verbrechens der Nazis und den Dimensionen des Gedenkens der deutschen Bevölkerung von heute zu diesem Verbrechen die Stätte der Erinnerung verlassen und sie wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Cecile Cordon Am 27. Januar, anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz, fand im Anschluss an eine Gedenkveranstaltung im Rathaus Schöneberg die Eröffnung der Ausstellung statt. Aufgerufen zu dieser Veranstaltung hatten neben dem Bezirksamt die Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Deutsch-Israelische Gesellschaft, die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, zur Gestaltung des Abends trugen mehrere Schulen bei. Mit dem massenhaften Interesse hatten die Organisatoren wohl in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet, die Besucherzahl dürfte die vorhandenen Stühle um gut das Doppelte übertroffen haben. Das war, gerade angesichts der jüngsten Provokationen seitens der Neonazis, eine recht eindrucksvolle Demonstration, auf die denn auch einige der Festredner eingingen. Unter den vielen Beiträgen dieses Abends hinterließen die Ausführungen Ester Golans als Vertreterin jüdischer Zeitzeugen den stärksten Eindruck, das persönliche Renomme& einer historisch-politischen Entwicklung, die Ester Golan 60 Jahre, nachdem ihre Mutter in Auschwitz ermordet worden war, nach Berlin führte, um der Befreiung des Konzentrationslagers zu gedenken. Erzählte Geschichte — unter diesem Anspruch steht die Erinnerungsarbeit, die seit gut 20 Jahren vom Kunstamt Schöneberg betrieben wird und zu einer der größten biografischen Sammlungen ehemaliger Mitbürger geführt hat. Bereits 1995, 1999 und 2000 wurden aus dem Fundus dieser „work in progress“ Ausstellungen entwickelt. Diese verdienten genau wie die jetzige den Namen Installation, denn im Mittelpunkt der Realisierung steht jeweils die einzelne Biografie in ihrem Bezug zum Ort auf der einen Seite und auf der anderen der Besucher dieses Orts in allen möglichen Relationen zur einzelnen Biografie. In diesem Fall — der Ausstellungshalle des Rathauses Schéneberg — ging die Projektleiterin Katharina Kaiser, gleichzeitig Leiterin des Kunstamts Schöneberg, von der Assoziation einer alten Präsenzbibliothek aus, um in einem offenen Großraum intime Lesesituationen zu schaffen. Illusion der Bücherwände bilden Karteikarten, die 1987 von Andreas Wilke, Bezirksverordneter und Mitglied des Schöneberger Kulturarbeitskreises, angefertigt wurden. Er kopierte sie von den Karten, die die „NS-Vermögensverwertungsstelle“ für jeden Deportierten angelegt hatte. In Maschinenschrift ein Aktenzeichen, daneben Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Anschrift, darunter ein handschriftlicher Vermerk, zum Beispiel: 81. Alterstransport vom 14.1. 1943 nach Theresienstadt. Der Beitrag von Wilke war dann Ausgangspunkt für das von Renata Stich und Frieder Schnock entworfene und 1993 eingeweihte Denkmal, 80 Tafeln in den Straßen des Bayerischen Viertels, die auf die schrittweise Ausgrenzung der über 16.000 jüdischen Bewohner Schönebergs (davon konnten sich 10.000 durch Emigration retten) hinweisen. Eine Tafel mit einem Bund Radieschen — das fällt auf und macht neugierig. Auf der Rückseite die Aufklärung: „Nur ehrbare Volksgenossen deutschen oder artverwandten Blutes können Kleingärtner werden. 22.3. 1938“ Die Perfidie des Schreckens, die alltägliche Entwürdigung darzustellen, ist eindrücklicher als ein zentrales Monument. Die Geschichte öffentlicher Verordnungen, ihr schrittweiser Vollzug - hier wird sie im wahrsten Sinne des Wortes Schritt für Schritt sichtbar. Zur ersten Ausstellung erschien dann der Katalog „Orte des Erinnerns“, der jetzt vergriffen ist, einziger Makel der gegenwärtigen Installation, deren Konzept im übrigen phantastisch aufgeht. Die Atmosphäre eines Lesesaals wird durch Tischreihen vermittelt, auf denen Lampen und an Folianten erinnernde Mappen die Leseplätze symbolisieren. Sie enthalten die Lebenszeugnisse, die ausgehend von den Dokumenten der NS-Bürokratie über einzelne Deportierte gesammelt wurden. So bekommen einige der Aktenzeichen ein