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möglich sein, das bis 1945 seine Konflikte global und zuletzt regional mit Kriegen austrug. Insofern ist ein selbstbewusstes, demokratisches und patriotisches Österreich auch eine Vorbedingung für ein zivilisiertes und möglichst friedliches Europa. Aus all den genannten Gründen bitte ich um weniger rituelles Feiern und mehr Muße zum Lernen und stelle nun eine Reihe von neuen Büchern vor, die es heuer verdienen, gelesen zu werden. Paul Martin Neurath: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Hg. von Christian Fleck und Nico Stehr, mit einem Nachwort von Chr. Fleck, Albert Müller und N. Stehr. Aus dem Englischen von Hella Beister. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, 461 S. Der erste Autor, den ich vorstellen möchte, steht für den Verlust, den das kulturelle Österreich durch die Einbeziehung in das verbrecherische und kriegstreiberische Deutschland erlitten hat. Der 1911 geborene Paul Martin Neurath wurde in einer intellektuellen Familie groß und stand vor einer juristischen und sozialwissenschaftlichen Karriere in Wien. Mit dem „Anschluß“ wurden seine sozialistische Positionierung und seine Herkunft zu Lebensgefahren. Sein sofortiger Fluchtversuch scheiterte, aber er konnte 15 Monate später ausreisen, kam nach New York und begann eine internationale Karriere als Statistiker und Sozialwissenschafter. Seine wissenschaftliche Laufbahn in den USA mußte er mit einer Analyse seiner Verfolgung beginnen. Er promovierte 1943 an der Columbia University mit einer Dissertation, die die erlittene Terrorerfahrung vom März 1938 bis Juni 1939 sozialwissenschaftlich verarbeitete: „Social Life in German Concentration Camps Dachau and Buchenwald“. Diese soziologische Arbeit über seine Lagererfahrung wurde in den Staaten möglich, weil dort bereits offene qualitative Verfahren erprobt und diskutiert wurden. Dennoch fiel es ihm nicht leicht, seinen Ansatz in den Gruppenkonflikten der Soziologen durchzubringen. Auch die amerikanische Wissenschaft hatte Probleme mit einem ehemaligen KZHäftling, der seine eigenen Erfahrungen soziologisch auswertete. Vielleicht hat ihn diese Außergewöhnlichkeit auch selbst verunsichert. Er lehnte alle Angebote zur Veröffentlichung seiner Dissertation in einer „für ihn untypischen wortkargen Weise ab“. (S. 441) Erst nach seinem Tod 2001 ist die Studie nun mit Erlaubnis seiner Witwe auf Deutsch veröffentlicht worden. Neuraths Arbeit ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie versucht, den „Alltag“ der inhaftierten Menschen nahezubringen. Er beschreibt Lebensbedingungen und Gefährdungspotentiale, ohne sich von den angsterzeugenden Ereignissen zu sehr bestimmen zu lassen. Er schrieb seine Arbeit in zwei Teilen: Im ersten, mit dem Titel „Die Szenerie“, versucht er, die Routinen, 80 Methoden der SS, Kategorien der Häftlinge, Qualen, Arbeiten, den Ort der Konzentrationslager usw. genau und nachvollziehbar zu protokollieren. Die allgemeinen Strukturen des Lagerlebens werden aufgewiesen und durch den Vergleich der Besonderheiten Dachaus und Buchenwalds relativiert — eine dichte Beschreibung des Lagerlebens 1938 und 1939. Der zweite Teil thematisiert „Die Gesellschaft“. Ausgangspunkt der Analyse ist das Nachdenken darüber, wie KZ-Häftlinge zu überleben vermögen. Ihre Aufgabe ist: „durchzuhalten“, was mit gruppenspezifischen Haltungen, Strategien und Hilfen versucht wird und gegen die Absicht der SS, die Haftlinge zu brechen und zu dezimieren, gerichtet sein muss. Der Uberlebenskampf der verschiedenen Häftlingsgruppen, die von nationalsozialistischen Kategorien („Winkeln“) bestimmt wurden, musste sich der vorgefundenen Machtverhältnisse im KZ bedienen. Da die Organisations- und Reproduktionsarbeit von den Häftlingen selbst verrichtet werden musste, versuchte jede Gruppe so viel als möglich von den dadurch entstehenden Funktionsposten zu bekommen. Die „offiziell eingesetzte herrschende Klasse“ umfasste zur Zeit von Neuraths Haft in Dachau und Buchenwald ca. 4 Prozent der Häftlingspopulation. Um die Funktionshäftlingsposten gab es erbitterte Kämpfe. Die Funktionshäftlinge mussten die „gut geölte Maschine“ (S. 231) KZ bedienen, und der Unterschied zwischen ihnen lag nicht im Ergebnis, sondern in der Methode, wie sie diese Maschine in Schwung hielten. Die linken Politischen waren aufgrund ihrer früheren Erfahrungen von Disziplin und Solidarität am ehesten fähig, die „Maschine“ effizient und weitgehend ohne Einsatz von Gewaltmitteln zu „bedienen“. Am Beispiel des „Moorexpress“, dem von Häftlingen bewegten Lastwagen, zeigt Neurath, was ein „privilegiertes “ politisches Kommando ausmachte: Es hat sich eine gewisse Würde, Zähigkeit, Wendigkeit und unaustauschbare Notwendigkeit ertrotzt. Die 17 Leute des Moorexpress spielten so gut zusammen, dass sie selbst direkten Angriffen der SS ihre Wirksamkeit nehmen konnten. Die Häftlinge und das Funktionshäftlingssystem mussten mit dem Chaos, den völlig verrückten Eigentumsrechten und einer weitverbreiteten Korruption zurechtkommen. Das konnten sie nur, wenn sie ein Rechtssystem mit Sanktionen entwickelten. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Rechtsvorstellungen der politischen und der sogenannten kriminellen Häftlinge divergierten. Je nachdem, welche Rechtsvorstellungen gerade mit jenen der SS konvergierten, war die eine oder die andere Gruppe „an der Macht“. Z.B. nützten die „kriminellen‘“ Funktionshäftlinge den „Reichtum“, der mit den Juden des Pogromsonderlagers November 1938 nach Buchenwald kam, so exzessiv, dass ihre Gier mit der Raubgier der SS in Konflikt geriet. Diesen Konflikt zwischen den „herrschenden Klassen‘ nützten die Politischen umgehend. Sie hatten kein Interesse an Raubgut, das überließen sie der SS, und da sie in kürzester Zeit die Korruption ziemlich in den Griffbekommen haben, haben sie als Funktionshäftlinge die Verhältnisse im Lager für den einzelnen Häftling merkbar verbessern können. Im Schlusskapitel seines Buches widmete sich Neurath der Frage: Warum haben sie nicht zurückgeschlagen? In seiner Antwort schildert er die Eintrittsprozedur ins KZ — das Brechen der Person — und die Umwertung der Ehrbegriffe im Lager: Während es für die Ehre eines Mannes zu dieser Zeit unerträglich war, im zivilen Leben geschlagen zu werden, wurde es für „fertig ausgebildete“ Häftlinge zur Pflicht, Torturen ohne Widerstand und Zeichen des Schmerzes zu ertragen. Ob sie es konnten, ist eine andere Frage, aber angesichts des Ausmaßes des Terrors kann man nur von der Entwicklung einer angepassten Moral der Häftlinge sprechen. Neurath kam ins KZ, als die deutschen KZ wieder Massenlager wurden. Er beobachtete, wie schnell körperlich und psychisch unangepasste Menschen zerbrachen. Da er jung und stark war und erfolgreiche Helfer außerhalb und innerhalb des KZ hatte, konnte er nach eineinhalb Jahren ausreisen. Er beobachtete die Maschine des Terrors genau, analysierte, welche Rollen die Häftlinge einnehmen konnten und protokollierte die ersten großen Konflikte unter den Häftlingsgruppen. Sein Buch bietet eine der wenigen Gesamtaufnahmen des sozialen Lebens in deutschen Konzentrationslagern, aber die Steigerung des Terrors und die Vernichtung hat „seine Darstellung in gewisser Weise “überrollt’“. (S. 435) Das stimmt und stimmt nicht. Ein Brief Neuraths an einen Freund in Schweden dokumentiert, wie schnell genaue Beobachtung von der Logik der Unterhaltungsindustrie verschluckt und damit unterdrückt werden kann. Neurath ärgerte sich in diesem Brief, dass er nicht 1943 die Veröffentlichung seines Buches forcierte (siehe oben!), als die Shoah noch weitgehend unbekannt war: Verlage wollten nichts mehr drucken über Konzentrationslager ohne Gaskammern. Wer will das hören. Das Publikum ist verwöhnt. Dass unsere Leute im Schneesturm an den Bäumen gehängt sind an ihren Handgelenken und dabei nach Vater und Mutter geschrieen haben, wen lockt das noch im Zeitalter der Verbrennungsöfen und des Millionen-Mordes. ... ja, Ja, „we greatly appreciate your objectivity, and the clarity of your analysis, but the readers want to have more sensational accounts “. (Brief vom September 1946). Ella Lingens: Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes. Hg. und mit einem Vorwort von Peter Michael Lingens. Wien: Deuticke 2003. 335 S. Ella Lingens mußte zu einer Zeugin des „Millionen-Mordes‘“ werden. Doch wie kam eine gebildete „Arierin‘“ mit durchaus besitzbürgerlichem Background im Oktober 1942 in