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Gestapo-Haft und warum wurde sie im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert? Sie hatte „Judenbegünstigung“ begangen. Als ihnen ein Sohn geboren wurde, diskutierten Ella Lingens und ihr Mann Kurt zwar, sich durch aussichtslosen Widerstand nicht in Gefahr zu bringen, aber das Schicksal ihres Freundeskreises ließ sie nicht unbeeindruckt. Ella Lingens war in den Konflikten der Ersten Republik Sozialdemokratin geworden, und in ihrem Freundeskreis wimmelte es nur so von großen Namen. Viele von ihnen konnten emigrieren, doch vielen musste geholfen werden. Die Kämpferin aus dem sozialistischen Widerstand gegen den Austrofaschismus wurde ab 1938 zunehmend aus Freundespflicht zur Helferin. Und sie bewegte sich weiterhin in illegalen Zusammenhängen, nahm unter anderem an den legendären psychoanalytischen Ausbildungskursen August Aichhorns teil. Wegen einem Flugblatt oder einer symbolischen politischen Aktion wollte sie nicht von ihrem Sohn getrennt werden, aber persönliche und politische Freunde konnte sie nicht im Stich lassen. Sie versteckte sie und war Fluchthelferin, vor allem für jüdische Freunde. 1942 geriet sie an einen vermeintlichen Helfer, der Gestapo-Spitzel war. Er lieferte sie in die Fänge der NS-Verfolgungsmaschine. In der Wiener Gestapo-Haft wurde Ella Lingens vergleichsweise ‘zivil’ verhört. Durch die gleichzeitige Verhaftung ihres Mannes und von Freunden lagen die Anklagepunkte klar, ihr wurde bald bewusst, dass sie wegen ihrer „Taten“ ins KZ kommen würde. Ella Lingens begann sich im Gefängnis auf die KZ vorzubereiten, sie wurde völlig unterschiedlich informiert, aber alle konträren Auskünfte hatten einen Kern von Wahrheit und konnten wegen der Ungeheuerlichkeit dieser Wahrheit nicht angemessen oder umfassend sein. Die ersten Eindrücke in Auschwitz waren zerstörend, Ella Lingens musste sich schnell wappnen, um weiterleben zu können. Sie konnte sich in der brutalen Lagerrealität kaum zurechtfinden und musste sich in Egoismus üben, wie sie schreibt. Als „Deutsche“ und promovierte Medizinerin wurde sie Lagerärztin und war damit privilegiert. Sie arbeitete zuerst im „Honoratiorenblock“ des Krankenreviers; dort ging es kaum weniger schrecklich zu als in den anderen Krankenblocks; dort bekam sie im Sommer 1943 Fleckfieber, das sie mit ihrer Kraft und dem Herzmittel überstand, das sie als „Privilegierte“ bekam. Nach einer Denunziation wurde sie in den Krankenblock der Polinnen strafversetzt, wo sie sich deutlich besser fühlte als bei den Konflikten der Hierarchiespitze. Ella Lingens hatte noch keine medizinische Praxis, als sie Lagerärztin wurde, und Krankheiten verlaufen in Extremsituationen anders als bei gut Versorgten. Zudem praktizierte die SS als Krankheits- und Seuchenbekämpfung die Vergasung der Erkrankten. Die Lagerärztin Lingens musste in einer unvorstellbar extremen Situation lernen, mit Tricksen und Verschleiern gegen die SS und dem Ausnützen aller Möglichkeiten, wie Organisieren, also Stehlen, Betrügen und sich Durchsetzen in einer unendlich schwierigen Situation. Sie gab nicht auf, managte Selektionen und musste lernen, mit einem unberechenbaren Gegenüber, wie z. B. Dr. Mengele, umzugehen und die Widersprüche unter den SSlern auszunützen. Sie hätte sich als „arische“ Lagerärztin auf die Seite der Täter stellen können, hätte die besten Positionen in Auschwitz haben können, aber diese Allianz mit dem nationalsozialistischen Feind war für sie nicht denkbar. Sie wollte nicht ,,Unteroffizierin“ der SS werden, sie hat auf ihr Uberleben geachtet, aber sie wollte zum Durchkommen der mitgefangenen Frauen beitragen. In dieser komplizierten Arbeit vor allem im 22. Halbjahr 1943 und 1944 hat sie sich eine luzide Kenntnis der „Häftlingsgesellschaft“ im Monsterlager Auschwitz-Birkenau erworben. Da sie so lange ums Überleben ihrer weiblichen Mithäftlinge kämpfen konnte, sind ihre Geschichten über die einzelnen Häftlingsgruppen im Horror von Auschwitz von besonderem Wert. Sie hat als ,,Gestalterin“ des Lagerlebens tiefere Einblicke in dessen Dynamik gewinnen können und konnte sich in dieser Position auch damit auseinandersetzen, dass quasi nebenan die Vernichtung millionenfachen Lebens stattfand. Was Paul Martin Neurath für die KZ Dachau und Buchenwald leistet, brachte Ella Lingens für AuschwitzBirkenau zustande: letztlich auch eine sozialwissenschaftliche Analyse eines Horroruniversums zwischen Aushungerung, Überarbeitung und industriellem Massenmord. Ende 1944 wurde Dr. Lingens nach Dachau versetzt, weil dort eine Lagerärztin gebraucht wurde. Obwohl sie ihren Schutzbefohlenen versprochen hatte zu bleiben, war die Sehnsucht, in die Nähe ihrer Familie zu kommen, stärker. Sie kam in ein vergleichsweise angenehmes Außenlager, zog sich aber mit der selbstbewussten Haltung einer durch viele Höllen Gegangenen die Feindschaft eines mächtigen SSlers zu. Durch diese Lebensgefährdung — dieser SS-Mann trachtete Ella Lingens zweifellos nach dem Leben — und die Anspannung und das Chaos des Endes ist sie beinahe zusammengebrochen, sie konnte sich gerade noch im Dachauer Revier verkriechen. Dort erlebte Ella Lingens die Befreiung, erholte sich noch etwas, um dann nach Kärnten aufbrechen, wo sie ihr Kind bei einer Pflegefamilie untergebracht hatte. Der Nachkrieg hielt jede Menge Bitternisse für Ella Lingens bereit. Sie fand als außerordentlich qualifizierte Frau zwar eine angemessene Arbeit, aber das postfaschistische Österreich gab dieser besonderen Frau „natürlich“ keine besondere Chance. Frau Lingens übernahm ihre Verantwortung und mischte sich weiter ein, wurde 1980 als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Sie lebte ein aufrechtes Leben, protzte nicht mit ihrer außergewöhnlichen Anständigkeit, ihrem harten und widerständigem Weg und blieb reflektiert: So bezweifelte sie, ob sie mit dem Wissen des Horrors, den sie auf sich zu nehmen hatte, Widerstand geleistet hätte. Prognosefähigkeit ist uns Lebenden und Handelnden nur ungenügend gegeben; wenn ein Weg in den Abgrund beschritten wird, ist der mögliche Horror kaum vorherzusehen, und somit war für Lingens „moralisches Handeln (kaum) in einem tragbaren Verhältnis zu meinem Risiko“ (S. 42) zu kalkulieren. Patrick Martin-Smith: Widerstand vom Himmel. Österreicheinsätze des britischen Geheimdienstes SOE 1944. Hg. von Peter Pirker. Wien: Czernin Verlag 2004. 416 S. Peter Pirker: Agents in Field. Zur Rekrutierung von Mitarbeitern der „Austrian Section“ im britischen Geheimdienst „Special Operations Executive“ 1942-1944. In: Zeitgeschichte (Wien) 31. Jg., März/April 2004, Heft 2, S. 88-120. „Grabe, wo du stehst!“ ist ja eine schöne erkenntnisleitende Parole, aber selten werden im Schaufeln mentale und psychische Fixierungen überwunden und andere Perspektiven freigelegt. Zu oft wird nur ein wenig herumgekratzt und nach Illustrationen für vorhandene Auffassungen gesucht. Wenn man aber wirklich zu graben beginnt, beginnen die Sicherheiten zu tanzen und aus scheinbar unbedeutenden Orten und kleinen regionalen Ereignissen können internationale Zusammenhänge entstehen, die den kleinen Anfängen gar nicht zuzutrauen waren. Nicht viele Menschen haben den Mut, die vorgegebene Meinung über das Unmittelbare, Nahe tatsächlich zu überprüfen. Peter Pirker hat sich im Ort seiner Jugend, Berg im Oberkärntner Drautal, nicht mit den Entlastungsgeschichten und Ausgrenzungen zufrieden gegeben. Er bemühte sich geduldig mit den Familien, die als „Banditen“ und „Kriminelle“ beinahe mit Kontaktverbot belegt waren, in Verbindung zu kommen. Als diese, durch die postfaschistische Gesellschaft an den Rand gedrängten Menschen merkten, dass Peter Pirker nicht mit ihnen spielte, öffneten sie sich und wurden zu einer bedeutenden Inspiration für seine Arbeit. Sein beteiligtes, einfühlendes und aufbrechendes Forschen hat er in einem schönen Artikel für Zwischenwelt schon beschrieben. (Peter Pirker: Schöne Zeiten, harte Zeiten. Recherchen über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Rahmen der britischen SOE-Missionen in Friaul/Kärnten/Osttirol 1944. In: ZW 20. Jg., Nr. 4, März 2004, S. 12-19). Die Recherche in der Familie des Deserteurs und Partisans Stefan Hassler führte über die tragische örtliche Widerstands- und Verfolgungsgeschichte hinaus, weil Hassler mit der friulanischen Partisanenbewegung kooperierte, die ihrerseits wieder vom britischen Geheimdienst SOE unterstützt wurde, in dem deutsche und österreichische Emigranten und „Überläufer“ aktiv waren. In einem geographischen Bild kann man sagen, dass Pirkers 81