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dings vorbehalten, Kritik am Patriarchat mit genuinem Antisemitismus zu verbinden und mehr oder weniger indirekt zu behaupten, Juden seien an ihrer Vernichtung selber schuld, was eine besonders widerliche Form der Verkehrung von Opfern und Tätern und Verharmlosung der Shoah darstellt. Radonic ist zuzustimmen, wenn sie schreibt, daß die Theorie des Patriarchats für die Erklärung aller Formen der Vergesellschaftung, einschließlich des Nationalsozialismus, „in höchstem Maße unzulänglich ist“. Indem sie aber auf die Entstehung des autoritären Charakters in der Familie, also unter der Autorität des Vaters, hinweist, deutet sie selbst, ohne es zu wollen, darauf hin, daß ein psychoanalytisch reflektierter Begriff von Patriarchat, der die kritische Theorie der Gesellschaft mit einschließt, notwendig wäre, um zu begreifen, in welcher Weise sich der autoritäre nationalsozialistische Staat in den Individuen etablieren kann. Ein solcher Begriff müßte im selben Sinn erklären können, worin die Differenz besteht, die im anderen Falle die Etablierung eines solchen Staates nicht erlaubt. Wenngleich schon allein die historischen Fakten jeden Zweifel an der These von der Frau als dem „friedfertigen Geschlecht“ beseitigen sollten, so muß dennoch auch deren psychoanalytische Begründung überprüft werden. Radonic macht dies zum einen an dem Begriff der Kastrationsangst fest, den sie als weitgehend symbolisch und für beide Geschlechter gültig — als „Einschränkung sexueller Strebungen durch den/die mächtige(n) Rivalen/in“ — begreift. Das Verdrängungs- und Aggressionspotential aber wäre dann, entgegen Mitscherlichs Behauptung, bei Mädchen und Knaben das gleiche. Andrerseits aber verweist sie auf Else Frenkel-Brunswick‘ und Sanfords Studie „Die antisemitische Persönlichkeit“, die 1944 in den USA mit Studentinnen durchgeführt wurde. Demnach verläuft der potentielle Unterschied auf ganz bestimmte Weise entlang der Geschlechterrolle und betrifft die jeweils verdrängten Inhalte: Weil Männern gemeinhin Aggressionen eher zugestanden werden als Frauen, so Radonic, verschieben und projizieren sie „nur“ jene Aggressionen, die gegen eigene Autoritäten gerichtet sind, „während der andere Teil sowieso ungehindert an Schwächeren ausgelassen wird“. Frauen hingegen, „die sich im größeren Maße als Männer als ohnmächtig erfahren“, äußern nicht zuletzt aus Angst vor Liebesverlust, in jeder Hinsicht weit weniger Aggressionen, die sie aber gleichwohl haben. Antisemitismus und Rassismus bieten also auch hier die perfideste Möglichkeit psychischer Entlastung. Ljiljana Radonic: Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus. FrankJurt/M.: Peter Lang 2004. 178 S. Euro 39,86 Verstreutes Am 19. April wurde in Wien der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich der Erwin-Chargaff-Preis des Instituts für Ethik und Wissenschaft im Dialog in Wien überreicht. Dieses von dem Wiener Philosphieprofessor Peter Kampits geleitete „Kompetenz- und Dokumentationszentrum für Ethik und Wissenschaft“ hat — angesichts des internationalen „Ethikbooms“ (Zitat) — „eine systematische Dokumentation und Vernetzung der Ethikforschung“ zum Ziel. Von Bioethik, Wirtschaftsethik, Technik- und Wissenschaftsethik ist da die Rede. Der umfassende Anspruch zeugt von Appetit, die Wortwahl hingegen von einem guten Magen. Neu gemischt: Czernowitz im Spiegel seiner Dichter Die Geschichte einer Stadt und die dunklen Geschichten ihrer Hinterseite, nicht weniger ihr kultureller Kurswert, sind nicht allein an den Fassaden der Häuser abzulesen, seien diese auch noch so schön. Es genügt leider nicht, die Augen offen zu halten. Man muss sich schon ein wenig bequemen. Natürlich kann man sich mit dem Ziel „Czernowitz‘ in die Obhut eines professionellen Reiseführers begeben, der einem für gutes Geld die Stadt nahe bringt. Preiswerter zweifellos, gründlicher, in höherem Maße vertiefend und nachhaltig, gleichsam verinnerlichend aber ist es, sich in den Gegenstand einzulesen. Damit das glückt, hat uns jetzt der Klagenfurter Verlag Wieser ein Büchlein in die Hand gegeben, das sich dazu vorzüglich eignet: Peter Rychlos unter dem Titel „Europa erlesen. Czernowitz“ herausgegebene Anthologie der Erinnerungen, Betrachtungen, Besinnlichkeiten, Aufzeichnungen, Gedanken, die alle mit dieser Stadt zu tun haben, auf sie verweisen, aus ihr ihre Kraft schöpfen. Überwiegend sind es kurze Prosastücke, Briefe, Essays, aber immer wieder stößt man auch auf Lyrik. Was den Verlag geritten haben mag, mit einem Einbandentwurf daher zu kommen, der mit der Goldprägung seines mattschwarzen Covers mehr an ein ukrainisches Gebetbüchlein erinnert als schlicht die beachtliche, ja außergewöhnliche Literatur einer am Rande des mitteleuropäischen Bewusstseins liegenden Gegend vorzustellen, weiß ich nicht. Immerhin hält sich der Band gut in den Händen und ist vielleicht gerade von seinem kompakten Format her genau das Richtige, auf der dreißigstündigen Bahnfahrt nach dem Mekka der Freunde und Verehrer Ostmitteleuropas den Begleiter zu spielen. Rychlo lässt auf fast dreihundert Seiten noch einmal viele der vertrauten Stimmen zur Stadt Revue passieren — von Rose Ausländer über Alfred Gong bis Edith Silbermann —, steckt aber mit einer Reihe neu-alter Autoren auf den geschmückten Baum neue Lichter auf. Es sind dies Schriftsteller, Erzähler, Dichter und Poeten, die zu finden, aufzustöbern, zu übersetzen wir schon einige Mühe aufwenden müssten. So treffen wir auf das Gedicht „JungCzernowitz“ von Klara Blum aus der Meschdunarodnaja kniga aus dem Moskau des Jahres 1941. Hier war wenigstens keine Übersetzungsarbeit zu leisten. Aber Rychlo führt uns auch in von ihm selbst bewerkstelligten Übersetzungen eine Reihe Autoren vor, deren ukrainische, polnische und jüdisch-russifizierte Namen zeigen, mit welcher Stadt wir es neuerlich zu tun haben. Da erzählt Vasyl Kobyelanko etwa die Geschichte von der berüchtigten Denkmalschändung auf der Piata Unirii, Igor Pomerancev erinnert sich an Paul Celan und die eigene Kindheit in Czernowitz, Mojsej Fi$bejn brilliert mit einer Hommage an den Klassiker der modernen Lyrik. Sophia Majdanska schreibt einen Essay über die Verderblichkeit der Ware Stadt: „Was an der Oberfläche liegt — das Augenfällige und Freimütige bis hin zur plakativen Deklarativitat — und vom Künstler auf symbolischem Niveau charakterisiert wird, das ist die Angriffspsychologie einer brutalen Nomadenmasse, die hinter die Grenzen ihrer menschlichen Wiirde zuriickgeworfen ist, einer Masse, die der geistigen Schätze ihrer eigenen Heimat entbehrt, sie als etwas Fremdes und Feindliches — bis zum Spott und Vandalismus — empfindet, sie [...] einfach nicht haben und hinnehmen will.“ Da darf man dann schon nachdenklich werden, was etwa — ganz aktuell— den Umgang mit den kümmerlichen Resten frühklassizistischen Bauens in unserem Frankfurt am Main angeht. Diese Autoren vorzustellen ist schon deshalb verdienstvoll, weil für die Freunde der Stadt der literarische Faden nicht selten mit dem Zweiten Weltkrieg abgerissen scheint. Wir erfahren durch Karl Kraus, und zwar in den Nummern 781 bis 786 seiner „Fackel“ — da schreiben wir das Jahr 1928 — vom Schlosser Karl Piehowicz, der offenbar nicht grundlos in der Czernowitzer Landesirrenanstalt festgehalten wird. Kraus hält ihn für den „größten heute in deutscher Sprache denkenden, vielleicht den einzig großen Dichter, und einer der größten, die je gelebt haben“, und präsentiert ein Stückchen Prosa und drei Gedichte, die tatsächlich verblüffen. Im Ernst: Man bekommt Lust, sich diese Lyrik übers Bett zu hängen. Schließlich seien zu Rychlos Sammlung, der übrigens ein gründliches Lektorat nicht geschadet hätte, die Briefe Ninon Ausländers an Hermann Hesse empfohlen, unter denen der erste aus dem Jahre 1910 schon ein wenig sprachlos macht. Ninon Ausländer war zu dieser Zeit Schülerin des Humanistischen Gymnasiums in Czernowitz und vierzehn Jahre alt. Peter Rychlo schließt die Sammlung mit einem Aufsatz und dem Blick dessen, der die