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kulturhistorische Bedeutung der Stadt und ihre Größe gleichsam erfahren, erlebt, der sie sich erarbeitet hat, der sie ermessen und mit Fug über sie referieren kann. Die wird einem nämlich — wie schon gesagt - nicht hinterher getragen. „Czernowitz als geistige Lebensform“, so der Titel von Rychlos Aufsatz, weist auf das, was er als Maxime auf den Begriff bringen möchte: Die Stadt ist nicht gleich Vineta versunken. Othmar Andree Europa erlesen. Czernowitz. Hg. von Peter Rychlo. Klagenfurt/Celovec: Wieser 2004. 302 S. Euro 12,95 Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945 Vorweg: Eine Ausgabe des längst vergriffenen gleichnamigen Lexikons (1995) war und ist wünschenswert und notwendig. In dem neuen Band hat die verdiente Pionierin auf dem Gebiet der Erforschung der von Frauen geschriebenen Exilliteratur, Renate Wall, 212 bio-bibliographische Einträge, davon 70, die zur österreichischen Exilliteratur zu zählen sind, gesammelt. Wieder und immer noch muß auf den kulturellen und existentiellen Bruch verwiesen werden, der durch die Verfolgung, Exilierung und Ermordung von Schriftstellerinnen, die sich vor und nach 1945 in ihren Werken mit dem Faschismus und dessen Folgen auseinandergesetzt haben, entstanden ist. Ein unverzichtbarer Bestandteil der Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere als Widerspiegelung eines „weiblichen Gedächtnisses“, dessen Präsenz über den Nationalsozialismus hinaus im literarischen Leben und Kanon rigoros unterbunden war. Erst seit Beginn der 1990er Jahre finden Werke der Exilautorinnen stärkere Beachtung, werden jahrzehntelang vergriffene Bücher neuaufgelegt (wie die Werke von Hermynia Zur Mühlen, die in herkömmlichen Literaturgeschichten als Autorin der Zwischenkriegszeit rubriziert wird, deren Hauptwerk jedoch im Exil entstanden ist) oder überhaupt erstveröffentlicht (sämtliche Romane, Stücke und Erzählungen in Buchform von Veza Canetti) und wurden zahlreiche Einzelstudien zur Exilliteratur verfaßt. In umfangreichen Nachschlagewerken der Epoche sind Schriftstellerinnen angemessen vertreten oder wird offen auf noch Unerforschtes hingewiesen (u.a. im „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur‘, hg. von Andreas B. Kilcher, Stuttgart, Weimar 2000, oder auch in der ZW). Renate Wall hat viele der in den letzten zehn Jahren veröffentlichten Titel integriert, leider die unübersichtliche Form (ohne genaue bibliographische Angaben) beibehalten, was den Zweck des Lexikons, „verbotene und vergessene Literatur“ zu propagieren und die Zugänglichkeit für ein interessiertes Lesepulikum zu erleichtern, nicht dienlich ist. Zumal gerade im Bereich der Exilliteratur die große verlegerische Vielfalt des deutschsprachigen Raumes zum Tragen gelangt: Die Exilromane von Hermynia Zur Mühlen sind bei Promedia bzw. Sisyphus, Wien, erschienen; Gedichte von Else Keren unter dem Titel „Im Sand Deiner Gedanken/In the Sand of Your Thoughts“ (Deutsch/Engl., Übersetzung von H. Kuhner) 1997 im Alekto Verlag, Klagenfurt, im Rahmen der Edition Mnemosyne; Stella Rotenbergs Prosa „Ungewissen Ursprungs“ (1997) und die gesammelte Lyrik „An den Quell“ (2003) im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien. Eine durchgehende Systematik ist bei einem Lexikon unabdingbar: Wenn z.B. Standorte von Nachlässen angegeben werden, dann bei allen Autorinnen, wo diese bekannt sind. Bei manchen Neuausgaben werden HerausgeberInnen, VerfasserInnen eines Vor- oder Nachwortes genannt oder auch nicht (so bleibt das instruktive Vorwort von Karl-Markus Gauß zu H. Zur Mühlens „Fahrt ins Licht‘ unerwähnt, wie auch der Herausgeber ihrer Romane Jörg Thunecke). Einige Lebenschroniken wurden überarbeitet und mit neuen werkspezifischen oder biographischen Studien ergänzt, andere wiederum nicht (Joe Lederer, Paula Ludwig). Die Lebensgeschichten von verfolgten Frauen verlieren sich oftmals im Exil und auch in einer zurückgezogenen Privatheit (verschwundene Nachlässe oder Korrespondenzen); ihre kulturelle Aktivitäten sind durch ein männliches Gedächtniss ausgefiltert. Diese Mechanismen sollten sich nicht in der lebensgeschichtlichen Darstellung reproduzieren und Schriftstellerinnen aus ihrem kulturellen, aber auch freundschaftlichen Umfeld isolieren. (Z.B. sollten Tätigkeiten in Exilorganisationen, Mitgliedschaften in antifaschistischen Schriftstellerorganisationen, redaktionelle Mitarbeit bei Exilzeitschriften usf. stärker berücksichtigt werden.) Ich sehe darin auch eine Frage der Perspektivierung des Exils — als einen Ort der Zuflucht und auch als einen Ort des Widerstandes und der Entfaltung. Dabei geht es auch um die Vernetzung der Einträge, z.B. finden wir bei Else Keren einen Hinweis auf Selma Meerbaum-Eisinger, aber nicht umgekehrt. Die Arbeit an einem Lexikon ist wie eine Wanderung mit einem Tausendfüßler, dem man zudem anschaffen muß, mit welchen Füßen er sich jeweils in Bewegung setzen soll. Zu einer solchen Anstrengung ist Renate Wall zu gratulieren. Etliche Füßchen scheint der Taußendfüßler allerdings nur hinter sich herzuschleppen. S. Bolbecher Renate Wall: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945. Überarbeitete und aktualisierte Neuauflage der Ausgabe von 1995 [Kore] mit 203 Einträgen und Werkübersichten. Gießen: Haland & Wirth/Psychosozial Verlag 2004. 553 S. Euro 36,Ludwig Winders Widerstandsroman „Die Pflicht“ 1943/44 entstand im englischen Exil Ludwig Winders Roman Die Pflicht als eine seiner letzten Arbeiten aus der Reihe seiner wunderbaren Romane, die es erst noch (wieder-)zuentdecken gilt — so etwa Die jüdische Orgel, Der Thronfolger, Dr. Muff oder Novemberwolke. In Prag der zwanziger und dreißiger Jahre war Winder nicht nur bekannt, sondern gehörte zentral zum kulturellen Leben der Stadt. Der sporadischen Forschung gilt er als ein Vermittler zwischen Deutschen, Tschechen und Juden. Die Pflicht erschien 1944 unter dem Pseudonym G.A. List in englischer Übersetzung mit dem Titel One Man's Answer. Erst 1949 wurde eine deutschsprachige Ausgabe veröffentlicht. Jetzt hat der Wuppertaler ArcoVerlag den Roman neu herausgebracht. Ludwig Winder wird am 7. Februar 1889 als Sohn des jüdischen Lehrers Maximilian Winder und seiner Frau Fanny, geb. Löw, in Safov geboren. Er wächst in der jüdischen Gemeinde von HoleSov auf, besucht in Pferov das Gymnasium und verlässt 1907 — nach der Matura an der deutschen Handelsakademie in Olomouc — das mährische ‚Provinznest’ und geht nach Wien, wo er als Reporter der linksliberalen Die Zeit arbeitet. In den nächsten Jahren schreibt Winder für verschiedene Zeitungen, verfasst jedoch bereits auch Gedichte und beginnt in Prag 1914 als Feuilletonredakteur, Literaturkritiker und Theaterreferent seine Tätigkeit bei der Bohemia, der neben dem Prager Tagblatt wichtigsten deutschsprachigen Zeitung der Region. Er erfährt hier als Journalist und Schriftsteller schnell Anerkennung und wird sogar als Kafkas literarischer Nachfolger angesehen. Bis 1938 schreibt Winder etwa 3.000 Artikel für die Zeitung Bohemia sowie etliche Romane in deutscher Sprache, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 auf dem Index stehen; somit wird Winder in Deutschland nicht mehr gelesen. Er erkennt die Gefahren, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehen, seine Artikel werden politischer, und 1938 steht für ihn fest, dass er weg muss, „so schnell wie möglich“. Doch erst am 29. Juni 1939 gelingt Winder mit seiner Familie eine Flucht über Polen nach Großbritannien. In Großbritannien kann Winder drei Romane — darunter auch Die Pflicht — beenden. Ludwig Winder stirbt am 16. Juni 1946 in Baldock (Hertfordshire) an einem Herzleiden. Die Pflicht ist ein politisches Buch. Winder lässt den Roman am 15. März 1939 beginnen, dem Tag der Besetzung der Resttschechoslowakei durch die Nationalsozialisten, widmet ihn dem Thema Widerstand der tschechischen Bevölkerung gegen die deutschen Besatzer. Sein Widerstandsroman steht unmittelbar unter dem Eindruck des Attentats auf Heydrich und des darauf folgenden Massakers 87