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Fortsetzung von Seite 1 gefährdeten minimalen Sicherheiten wie Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten. Oder die durch ihre Faktizität anklagende Gestaltung des Schicksals der arbeitslosen Stickerin Barbara Chlum, deren Abgleiten in die Prostitution — „wurde im Hottel in Gesellschaft betroffen/und sie besaß nebst zwei Groschen hiefür keinen Schein“ (II, 53) — und deren verzweifelter Widerstand gegen Rückfälligkeit in der aussichtslos gebliebenen Arbeitssuche ihren wahren Grund hat. Die Abhängigkeitsstruktur bestimmt in diesen Gedichauch die auf Vernichtung hinauslaufende emotionale und psychische Identitätsreduktion. Tod und Verbrechen stehen daher nicht selten am Ende dieses Trümmerhaufens, — leidenschaftslos und nicht mehr als ein stummer Aufschrei in der auf die Vergewaltigung folgenden Ermordung.einer namenlosen Magd im Gedicht ‚Nähagen‘ (II, 59). Identitäten stärker aus ihrer gesellschaftlichen Randbestimmung heraustreten, sie selbst, wenigstens im Ansatz, sprechen zu lassen, setzt Kramer im Band ‚Mit der Ziehharmonika‘ fort. Indem er sie zu selbsthandelnden Protagonistinnen einzelner Gedichte macht, verleiht er ihnen einen Schimmer an Bewußtsein einer eigenen Geschichte, eines Gesichtes, das empfindet und wahrnimmt, dem nicht mehr Empfindungen und Wahrnehmungen zugeschrieben werden, z. B. in der ‚Weinmagd‘ (I, 171). Wohl haben wir es auch hier mit einem Opfer der Verhältnisse zu tun, das für sich jedoch den kurzen Moment, das Glück zu retten versucht. Die Liebeserfahrung bleibt nämlich, ungeachtet der negativen Folgen, die in der Lösung ihres ‚Arbeitsverhältnisses‘ zu Lichtmeß immerhin ihre Überlebensgrundlage in Frage stellt, eine schöne, erhebt sich neues Bewußtsein: „Wo ich einstehen werde und gebären,/weiß ich noch nicht, doch ich trag den schweren/Leib so frei, als hätt, so weit man sieht,/über ihm das ganze Land gekniet.“ (I, 171) Die anderen Versuche von Identitätsentwürfen reichen allerdings an diese Perspektive nicht mehr heran, sie entstehen erst durch eine berichtende männliche Stimme, so im ‚Du‘ der ‚entraineuse‘ des Nachtcafés (I, 190), im Festhalten dessen, „was uns trennt“ in ‚An eine junge Freindin‘ (I, 202), in der zärtlichen Beschreibung einer flüchtigen Begegnung im ‚Lied zur Nacht‘ (I, 279). Gleichsam als Erweiterung seines Spektrums an gefährdeten und brüchigen Frauenbildern versteht Kramer die behutsame Zerstörung des makellosen Mutterbildes, eines gesellschaftlichen wie poetischen Tabus. Gerade in diesen Gedichten, wie ‚Der fremde Mann‘ (I, 194) oder ‚Mutter Magd‘ (II, 56), stellt Kramer unter Beweis, daß, unter Hintänstellung radikaler Intentionen, in einer Synthese von Sachlichkeit und Zärtlichkeit ungewöhnlich dichte Erfahrungen zum Sprechen kommen, so z. B. aus der Perspektive des Kindes, das staunend und scheinbar unwissend die allabendliche ‚Verwandlung‘ seiner Mutter erlebt: „Jeden Abend kommt ein fremder Mann;/ Mutter streicht sich in der Küche an,/macht geschwind im Speisezimmer Licht,/kennt und hört nur ihn und sieht mich nicht ...“ (I, 194) Einen außergewöhnlichen Platz nimmt auch die ‚Erfrorene Säuferin‘ ein. Tiefe Menschlichkeit und Solidarität spricht aus Kramers Bemühen, für die einzustehen, die tatsächlich ‚ohne Stimme sind‘, durch dieses Gedicht sein poetologisch-gesellschaftliches Programm, das durch den bekannten Vers ‚Für die, die ohne Stimme sind‘ umrissen ist, einzulösen. Dem Schweigen der Zeitungsberichterstattung soll ein Frauenschicksal entrissen werden, das durch die schonungslosen Bilder wohl nur am äußersten Rand der gesellschaftlichen Akzeptanzschwelle angesiedelt ist, wo dem Klischeebild der Verwahrlosung nur mehr die Transfiguration des Elends entgegengehalten werden kann: „.. es machte des Tropfbiers gestandener Schaum/die Schläfen dir schwer und das Leben zum Traum.“ (I, 267) Der Zyklus ‚Verbannt aus Österreich‘ verdrängt durch seinen Perspektivenwechsel — nationalsozialistischer Alltag, Überleben und Emigration — die in den 30er Jahren so reich entfaltete Bildlichkeit. Frauen verlieren vor diesem ‚politischeren‘ Hintergrund an Individualität, Konturierung, an Sein. Sie werden zu stillen Begleiterinnen, so in ‚Wer läutet draußen an der Tür‘ (I, 294), sie teilen die Ängste ihrer politisch gefährdeten Männer. Auch dort, wo sie Kramers Projektionen nach ein wenig Glück oder körperlichen Genuß auskleiden — Kontrastbilder zu seiner lebensgeschichtlichen Isolation — bleiben sie, nicht selten mit romantischen Versatzstücken den winkligen Gassen von Leicester Square‘ (I, 308), auf der Ebene individueller Regression. Erst in den Nachkriegsbänden kehren Frauenfiguren in erneuerten und teils schon bekannten Farben zurück. Sie bewegen sich — besonders in den Bänden ‚Die untere Schenke‘ und ‚Lob der Verzweiflung‘ — im wideraufgenommenen Kosmos der kleinen Figuren, der Außenseiter und der sozial Schwachen. Am Rande, wie der Dichter selbst, nehmen sie, ohne laut zu klagen, die sich fortsetzenden gesellschaftlichen Verhältnisse wahr. Ihnen gilt Kramers Lob, denn in der Weise, wie sie ihre Welt begreifen, scheint sich eine selbstbewußtere Identität herauszubilden: die klare Landergreifung ihres schmalen Fleckens ‚Schicksal‘ als authentisches Bruchstück dessen, was Leben sein könnte. Authentisch ist z. B. die Hingabe Josefas (I, 425) an ihr „Stück Feld“, an ihr „winziges Haus“ und den „Flieder“, sowie jenen gegenüber, die in seiner Authentizität und ohne jeden Anspruch erscheint auch der Wunsch der Vorstadthure (I, 445): „einmal (...) fänd ich mir gern einen schweigsamen Gast auf dem Strich/einen, der schlechter daran ist und ärmer als ich ...“ Gemeinsam ist den Figuren, die durch eine Vielzahl von Beispielen aus ‚Lob der Verzweiflung‘ und nun auch aus den Nachlaßgedichten, insbesonders aus dem Zyklus ‚Das schwarze Kanapee‘ bereichert werden können, ein empfindsames Wissen um den Wert ihrer Erfahrungen, um die wenigen Möglichkeiten und Orte, die einen Schleier über ihre Traurigkeit auszubreiten vermögen. „Zu schreiben, was noch nie in Gedichten sicherlich grenzüberschreitenden Bildern geleistet. Das Elend der weiblichen Figuren hat nicht zuletzt daran einen entscheidenden Anteil.