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Fortsetzung von Seite 3 Linie umfunktioniert wird, der Kampf gegen den Klassenfeind zu einem Kampf gegen das „System“ wird. In den ‘Gedichten der „Eherenen Lyra“ (der Titel wurde aus Gründerf der Tarnung gewählt) bemüht sich Brainin zugleich um die Konkretisierung seiner Sozialkritik (wie Kramer versucht er, Gedichte über Zeitungsnotizen zu schreiben, also über greifbare Vorkommnisse, die ein Licht aufs Ganze werfen) und um Methoden, die Geschlossenheit der liedhaften Form, die er schon so gut beherrscht, wieder aufzubrechen, z. B. indem er einen ernüchternden Satz Prosa hintanstellt. Von einer „Atmosphäre der überspitzten Groteske“ spricht der Kritiker Leopold Liegler 1936. — Brainin erhält im selben Jahr einen Preis der Julius Reich-Stiftung. Im Juni 38 las ich nachts bei einer geheimen Zusammenkunft Gedichte (wir blieben lang auf für die Kurzwellenübertragung des Kampfes Louis-Schmeling!) Ich reiste ab, nach Venedig (narrte die schwarze Flughafen-SS mit meinem Tennisschläger!), um dem Erdkreis meine Liebe zu erklären. („Wien ’38“, aus dem Amerikanischen von Hans Raimund, Lynkeus, März 1982). Am 1. Juli 1938 verläßt Brainin Österreich (und kehrt nicht wieder), gelangt im Oktober nach New York, schlägt sich durch am Rande der Zeitungwelt, rückt 1943 zur amerikanischen Armee ein, bewacht, verhört, betreut deutsche und österreichische Kriegsgefangene. Er hat dann, nach 1945, eine riesige Zeit, eine Menge von Jahren, die man überlebt haben muß, zu durchwaten, um zu uns herauf (zur Gegenwart, haltet euch fest) zukommen: ist Übersetzer technischer Patente, heiratet, arbeitet an einem Science-Fiction-Roman, überträgt Erich KästnerGedichte ins Englische, schreibt nicht mehr deutsch. Sein Sohn wird in Brooklyn von einem Puertorikaner ermordet, der Hitlers „Mein Kampf“ auf Amerikanisch gelesen hatte. Ich laur’ aufs Postschließfach (den taubenweißen Brief von einem leicht verrückten Drucker fröstelnder Dichter?) „Man vergißt euch nicht in Wien!“ ... But where’s the beef? Muse, in Frag’ steht jetzt mein Stil für Eiszeits Stadt: Macht Kunst noch Sinn? -- Ein Zug, der Dollargrünes hat, um das mich schön ein schwarzer Graffitoso bat? („Requiem für eine Einkaufstaschendame“. „But where’s the beef?“ — Parole der Veteranenbewegung; auch Brainin hat eine kleine Kriegsinvalidenpension.) In den letzten Jahren beginnt Brainin (der in Österreich lange als „verschollen“ galt, was aber keinen besonderen Unterschied macht) seine englischen Gedichte ins Deutsche zu übersetzen, umzuschreiben, neue Gedichte in dieser älteren Sprache zu konzipieren. „Begriffe, die zum ersten Mal in einer bestimmten Sprache erfahren wurden, sind mit tiefliegenden Assoziationen visueller und sinnlicher Natur verbunden, die gemeinsam ein kompakt verbundenes emotionelles Muster ergeben, das den ‚Urschlamm‘ für den kreativen, sprachschöpferischen Akt liefert.“ Was Wolfgang-Georg Fischer 1978 zum SchreiFritz Brainin Wien ’45: Sowjet-Sektor (Ballade von Leo Slezak) Sachs, ein Arien singender Schuster, die Frau schrie ihn an wie ein Huhn. Doch Slezak von Nazi-Wiens Oper war nie in seinen Schuhn. Sachs, vorm Anschluß, mit seinen Kunden hatte nie einen Verdruß. Dann Untergrunds Kabarett-Sänger besang Dr. Goebbels’ Klumpfuß. Sachs wurde verhaftet in Wien von SS-schwarzen Stiefeln im Nu als Wagners Clown, beschlagend des kleinen Teufels Schuh. In die Gosse mußt er sich legen. Er konnte nichts andres tun als lauschen dem Stechschritt, dem Schmeißer (toten Nägeln wachsend in Schuhn!) Er lag überm Gitter am Tage (wie taub der Sezierung zum Hohn!) Kalt im Sonnschein, im Nachtfrost brennend seine Seel hat Shuhs Leder bewohnt. Nach Osten verschleppt (widerwillig im Überlebens Getu!) er ließ sich von Treblinkas Wächter retten für seine Schuh. Seine Genitalien erfroren (sein Weib starb ihm längst wie ein Huhn!) wurd er ein Kapo, der zählte den Kahlnberg von Kinderschuhn. Ein Sumpf im östlichen Polen mit Frührots Dampf verschmolz: Er sprang ins Loch ... zur Freiheit ohne die Schuhe aus Holz. In Arbeitslagern Sibiriens (wo das Grammaphon gab ihm die Ruh!) für Kriegsgefangene summend reparierte er Schuh. L’envoi Mit Wiens gebombter Oper Sachs hat ein Rendevous: Sein Odysseus braucht einen Tenor, doch wem passen Slezaks Schuh? tisch: Er überschätzt die sprachliche Kontinuität bei denen, die aus ihrer Muttersprache niemals weichen mußten. Doch vergleichsweise (zur „Sprache der Heimat“) wird die Sprache des Exils eine vielfach gebrochene, nur mehr in der Reflexion, Erinnerung, Verschneidung mit der Sprache des Exillandes gegenwärtige sein. Frederick Brainin spricht die Sprache des Exils, aus ihm spricht das Exil zu uns. Er nimmt es nicht zurück: Er zeigt die Abstände, die verursacht worden sind, und mit : ; Fortsetzung auf Seite 5