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Fortsetzung von Seite 3 triumphierte eine Osterreich-Ideologie, die ein Eigentiimlich-Osterreichisches ungebrochen in aller Literatur von Grillparzer bis Doderer witterte. Die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und das Exil wurden als quantite negligeable gefaßt, Hauptsache man war Österreicher. Natürlich konnten die Exilierten hier nicht so mitreden wie die leidgeprüften Dagebliebenen. Mit dem Nachlassen und in der Folge dieser ÖsterreichIdeologie entstand in den 50er und 60er Jahren ein neuer Kanon „großer österreichischer Literatur“. Das Land verehrte sich in ihm als der Humus, dem literarische Prominenz entwachsen war. Neben und unter diesem Kanon wucherte die bodenständige Literatur der Billinger und Waggerl, der Mell und Grogger kräftig weiter. In der Inkongruenz österreichischer Exportkultur und Inlandskultur setzte sich die Spaltung der Literatur in entstellter Form fort: nicht als aufgenommenes Erbe, sondern als belastende Hypothek. Der entstellten Form entspricht eine irreführende Kritik am „Provinzialismus“ Österreichs. Diese Provinzialismus-Kritik nahm im Mund des Malers Arnulf Rainer (Club 2-Diskussion über Auslandkulturpolitik 17. 9. 1987) zuletzt die Form an, die Außenpolitik eines Alois Mock darum zu begrüßen, weil sie den Anschluß an Westeuropa ins Zentrum der Bemühungen rücke, statt kulturelle Beziehungen mit Lusaka und Nicaragua zu pflegen (die einem modernen Künstler wie Rainer nichts bringen). Hinter dem Anti-Provinzialismus kommt der Anti-Humanismus zum Vorschein — ein Zusammenhang, den Heinrich Böll schon seinerzeit für die Bundesrepublik diagnostiziert hat. Im Horizont eines derartigen Avantgardismus ist die Exilliteratur immer schon eine Art Nicaragua gewesen. Seit Ende der 70er Jahre hat sich die Situation ein wenig verändert; paradigmatisch dafür stehen die Wiederentdeckungen Jura Soyfers und Theodor Kramers. Bedenklich jedoch scheint das immer häufiger geübte Verfahren, Texte von Verfolgten und Exilierten als Illustrationsmaterial der Zeitgeschichte einzusetzen, Schriftsteller/innen posthum zu „Zeitzeugen“ zu ernennen. Davon sind insbesondere die autobiographischen Texte des Exils betroffen. Dieses Verfahren subsumiert die Texte einem zeitgeschichtlichen Raster, der ereignisgeschichtlich vornung der unmittelbaren Erlebnishaftigkeit, eliminiert das, was den Text zum künstlerischen Werk werden läßt, tendentiell aus der Rezeption. Die Zeitgeschichte, statt Erläuterungen zum besseren Verständnis der Werke zu liefern, stellt die Literatur in ihren Dienst. Damit wird nicht nur, wie gesagt, die ästhetische Seite der Exilliteratur ausgebendet, es wird darüber hinaus die Chance vertan, durch das Studium gerade der Autobiographien des Exils zu einem reicheren und weiteren Verständnis des geschichtlichen Inhalts zu gelangen. Der Struktur nach, kommt mir vor, ist damit ein Grundproblem der gegenwärtigen und künftigen Rezeption von Exilliteratur angesprochen. Das sind nurein paar Bemerkungen über das Spannungsfeld, in dem sich die Beschäftigung mit Exilliteratur (der Begriff wurde hier für das Insgesamt von Exil, Verfolgung und Innerer Emigration in der Literatur verwendet) in Österreich bewegt. Wird in der nächsten Nummer von „Mit der Ziehharmonika“ fortgesetzt. Herbert Staud STEFAN ZWEIG — In fernerer oder näherer Zukunft müssen sich — sagen die Weisen — alle Möglichkeiten verwirklichen: warum also am künftigen Glück der Menschheit verzweifeln? Helvetius In der deutschsprachigen antifaschistischen Literatur nimmt der historische Roman eine bedeutende Stellung ein. In einer Zeit, in der der Faschismus daranging, sämtliche bürgerliche Freiheit und Demokratie auszurotten, war es für viele Autoren ein Gebot der Stunde, jene Zeiten heraufzurufen, die diese Ideen und Ideale hervorgebracht hatten, und sie damit hochzuhalten. Die dabei gestalteten Probleme und Kämpfe sollten helfen, die aktuellen Auseinandersetzungen zu bewältigen — die Vergangenheit wurde zum „Illustrationsmaterial für die Probleme der Gegenwart“ (Lukäcs, 352). Auch im Werk Stefan Zweigs (1881—1942) schieben sich mit dem Vormarsch der Nationalsozialisten die historisch-politischen Themen in den Vordergrund (vgl. ZELEWITZ, 28). Mehr noch als bei anderen Autoren dominiert bei Zweig die historische Biographie. GESCHICHTE ALS ZEITMASKE Im Vergleich historischer Auseinandersetzungen mit der gegenwärtigen Situation ging Stefan Zweig allerdings viel weiter als seine Kollegen. Der von Georg Lukäcs in seinem Werk „Der historische Roman“ (1937) kritisierten Tendenz, daß der moderne historische Roman nur den Widerschein aktueller Probleme in der Geschichte gebe, aber nicht die konkrete Vorgeschichte der Gegenwart gestalte, entging Zweig vordergründig insofern, als die von ihm gestalteten geschichtlichen Situationen seiner Meinung nach der aktuellen Lage durchaus entsprachen. „Damals wie heute die Welt zerrissen, ein Schlachtfeld, Krieg zum Summum der Bestialität gesteigert.“ (Randnotiz zum Konzept des MONTAIGNE) „Damals wie heute“ meint Stefan Zweig gleichsetzen zu können, wenn es um die Fragen der Humanität, der Toleranz, des „Gewissens“ geht, denn damit sei „eine überzeitliche Frage aufgeworfen“ (CASTELLIO, 11). Als Ergebnis der von ihm kritisierten Tendenz sah Lukäcs „die Zufälligkeit der Thematik“ des historischen Romans an (LUKACS, 363). Für Stefan Zweig dagegen bestand die Zufälligkeit nicht in der Wahl seiner geschichtlichen Thematik, sondern darin, hinter welcher Larve die Geschichte ihren Kampf, einen Kampf zwischen Humanität und Inhumanität, „der unter anderen Namen und unter anderen Formen immer neu wird ausgekämpft werden müssen (CASTELLIO, 11), gerade austrägt: „Theologie bedeutet hier [in der Auseinandersetzung Castellio gegen Calvin; H. St.] nichts als eine zufällige Zeitmaske“ (ebd.). Die häufigen Satzeingänge mit „immer“ und „immer wieder“ sollen die Analogie der historischen Situationen ganz konkret zeigen, und die Einleitung des „Castellio“ ist in nur geringem Maß eine Einführung in die Situation der Reformation, sie stellt vielmehr eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation dar. Das. Aufwerfen der „überzeitichen Frage“, die Ana