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4 Jura Soyfer-Gesellschaft — Rückblick und Ausblick Die Jura Soyfer-Gesellschaft konnte auch in den letzten Monaten einige Erfolge verzeichnen. Im Dezember 1990 wurden im Presseclub Concordia gemeinsam mit dem dsterreichischen PEN-Club die neuesten Publikationen der Ariadne Press (Riverside, USA) vorgestellt. Professor Donald G. Daviau (University of California, Riverside) kündigte für Mai 1992 eine Konferenz zum Thema "Jura Soyfer und seine Zeit" in Riverside an. Eine Übersetzung von Werken Jura Soyfers durch Horst Jarka (Missoula/Montana) werde in der Ariadne Press erscheinen. Im Jänner las Erhard Pauer in den Wiener E-Werken aus dem Werk Soyfers. Und im Februar besuchten über Vermittlung der Soyfer-Gesellschaft 150 Arbeiter und Angestellte der Philips-Werke eine Aufführung von Soyfers "Astoria". Bei beiden Veranstaltungen konnten die Hemmungen überwunden werden, die gegenüber dem "Klassiker" Soyfer bestehen und damit hoffentlich ein dauerhaftes Interesse geweckt werden. Erhard Pauer liest. 15.1.1991, Wiener Stadtwerke - E Werke (Foto: H. Arlt) Am 7. Februar veranstaltete das Jura SoyferTheater zugunsten der Errichtung eines Soyfer-Archivs im Rahmen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (Wien) eine Benefiz-Aufführung von "Astoria". 16.602,95 Schilling wurden für das Archiv gespendet. Für den März ist eine Lesereihe von Otto Tausig und Lili Tausig geplant, bei der diese von Schurli Herrnstadt ("Schmetterlinge") musikalisch begleitet werden. Erstmals sollen die beiden Texte "Christoph Kolumbus" von Tucholsky/Hasenclever und "BroadwayMelodie 1492" von Jura Soyfer in einer Bearbeitungvon Otto Tausig vorgestellt und damit auf die literarischen Leistungen jener drei antifaschistischen Dichter aufmerksam gemacht werden. Diese Leseaufführungen werden in Pforzheim (Bundesrepublik Deutschland), Wien, Vöcklabruck, Velm und eventuell noch weiteren Orten zu sehen sein. Fortsetzung auf Seite 5 Die Wanderung der Romanheldin hat eine zweifache Bedeutung. Einmal geht es der Autorin darum, anhand der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, mit denen sie ihre Hauptfigur zusammentreffen läßt, die Motive auszuleuchten, aus denen die Bevölkerung den Faschismus unterstützt und in blinder Begeisterung in einen Krieg zieht. Die Motive solcher Menschen sind im wesentlichen emotionale, das Erlebnis der Figur eines jungen Fliegers, der den Krieg, in den er ziehen wird, noch für ein Kinderspiel hält. Auf der anderen Seite finden sich in verschiedenen Abstufungen die Täter. Diese reichen vom recht brutal und vulgär skizzierten Hauptmann, der sich vor dem Hintergrund eines ärmlichen Alltags unter den "Herren von morgen" und den zukünftigen "Herrschern der Welt" (FT, 425) sieht, bis zum hochkultivierten Professor der Kunstgeschichte, der sich in den Dienst der Machthaber stellt, indem er den Faschismus als die "Krönung unserer modernen Kultur" (FT, 367) erklärt. Die Motive, die in der Charakterisierung dieser Figuren aufscheinen, sind zum einen die Flucht aus einer materiell beengten und perspektivelosen Wirklichkeit, zum anderen imperialistische Machtgelüste. Der Roman macht deutlich, wer die Opfer der faschistischen Ideologie sind, nämlich die einfachen Leute. Es wird Partei ergriffen gegen eine pauschale Verurteilung des ganzen Volkes. Der Riß, den die politischen Extreme Kommunismus und Faschismus durch die Gesellschaft gezogen haben, wird versinnbildlicht an einer Familie, von der ein Sohn als Kommunist im Exil lebt, während der andere in Rom dem Zentrum der faschistischen Macht nahesteht. Daß die Darstellung des Faschismus exemplarische Funktion hat, wobei der Blick indirekt auch auf den deutschen (und österreichischen) Nationalsozialismus gerichtet ist, erweist eine Passage, in der die Protagonistin in Perugia einer Gruppe deutscher Studenten begegnet, unter denen sich sowohl Nazi-Anhänger als auch -Gegner befinden. Auf einer zweiten Ebene stellt die Wanderung der Romanheldin Sandra eine persönliche Entwicklung dar, die beinahe den Charakter eines religiösen Läuterungsprozesses hat. Bei der Komposition des Romans, dessen sechs Kapitel Titel aus dem Bereich der Musik tragen, dürfte die Autorin Dantes Divina Comedia vor Augen gehabt haben. Am Beginn ihrer Reise begegnet Sandra einem älteren italienischen Schriftsteller, der zu einer Leitfigur wird, dessen Spuren sie kontinuierlich folgt bis sie ihn schließlich auf Capri wiederfindet und bis zu seinem Tode im darauffolgenden Jahr mit ihm zusammenbleibt. Grave bedeutet im Italienischen ’schwer’, im Englischen gleichfalls ’schwer, ernst’. Der Name entspricht dem Charakter der Figur. Erst am Schluß erfährt man etwas über seine Geschichte, daß er im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und welche Hoffnungen er für sein Land hegte: "Dieses Land, mein Land Italien - wie habe ich seine Wiedergeburt ersehnt! Als ich aus dem Krieg kam und auf die Universität von Bologna - wie wollte ich es groß und edel und europäisch sehen! Aus den liebenswürdigen Gauklern, aus den Mondscheinschwätzern sollte ein besonnenes und ernstes Volk entstehen. (...)” (FT, 481) Wichtig ist, daß er im Entwicklungsprozeß der Heldin die Rolle des Führers übernimmt. Am Anfang lebt sie nur auf sich selbst bezogen, sie will Beobachterin sein, "nichts als ein Gefäß der Empfindungen", "Lieder singen für die Stummen bei Tag und Nacht, ein unermüdlich freudiges Herz der Welt" (FT, 359). Graves Forderung, "ein Mensch unter Menschen" (FT, 358) zu werden, weist sie von sich. Die Erfahrung, die die Protagonistin dann macht, läßt sich mit dem Abstieg zur Hölle bei Dante vergleichen. Nachdem zu Beginn noch die Flöte der Liebe dominiert, werden bald die Trommeln des Krieges und der Gewalt immer deutlicher vernehmbar. Sandra lernt alle Seiten der menschlichen Natur kennen und macht selbst einen Prozeß der stetigen Erniedrigung durch, der seinen Tiefpunkt im völligen Verlust der eigenen Identität erreicht, symbolisiert durch das Leben als Geliebte eines Faschisten unter falschem Namen und in völlig veränderter Gestalt. Erst eine erneute kurze Begegnung mit Grave reißt sie aus ihrem Dämmerzustand heraus und bewirkt, daß sie schließlich zu einem gereiften eigenen Ich findet. In