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einer glänzend geschilderten grotesken Komödie gibt sie den Architekten Italo, der sie als schönes Spielzeug gefangenhält, vor seinen Freunden der Lächerlichkeit preis und flieht aus Rom. Ihre Erfahrungen faßt Sandra am Schluß folgendermaßen zusammen: ”(..) Nurwas man tut, besteht! Ich habe nichts getan. Ich habe Männerund Frauen mit dem Tode kämpfen sehen und dabeigestanden, als ein Kind zur Welt gebracht wurde. Ich bin dem Schmerz, der Liebe, dem Ekel begegnet. Ich habe die Unmoral, die lächelnde Niedertracht kennengelernt. Schatten, Schatten, Grave. Es waren nur Schatten! Was für eine Leichtfertigkeit, mit der Welt umzugehen! Was für eine Flucht aus der Wirklichkeit! (...)”" (FT, 479) Hier wird der Bezug zu den verschiedenen Kreisen der Hölle, die der Pilger in Dantes Werk durchläuft, ganz klar erkennbar. Auch der Führer, Grave, zweifelt am Ende an der Richtigkeit seiner Lehren. Es geht dabei im Kern um die Rolle, die der Intellektuelle in der Gesellschaft spielen kann, um die begrenzte Macht des Wortes und der Ratio an und für sich - auch dies eine Anspielung auf die Rolle des Vergil in der Divina Comedia: ”(..) Sieh mich an, mit meinem kindischen Drang, die Menschen besserzu machen. Sieh mich an, wie ich ohnmächtig zuschauen muß, wenn sie gehen, einander zu töten. Mit meinen leeren Händen-’ ’Lieber! Quäle dich nicht-’ ’Mit meinen leeren Händen, Sandra, die nichts zu geben vermögen als ein wenig beschriebenes Papier, hilflose Worte’ (...) Von welchem Wert ist die Klarheit der Erkenntnis in dieser Zeit? Aber wir sind schuldig, die wir mit Gedanken kämpfen und nicht - ach, Sandra, mit unserer Brüder Blut-’' (FT, 480) Sandra beantwortet diese Fragen mit einer Geschichte aus ihrer Kindheit, deren Kernsatz lautet: "So wäre es gut, wenn man das Gesetz (die Zehn Gebote, Anm. d. Verf.) für sich bewahre und für alle anderen, die der Sintflut heil entgehen" (FT, 481). Übertragen auf die Schriftsteller bedeutet dies den Appell, daß sie trotz aller Hoffnungslosigkeit auch in der Isolation des Exils ihr Schreiben nicht aufgeben sollen. Grave kommt zu dem Schluß: "(...) Wir werden nicht mehr denken, Sandra. Wir werden handeln, und wir werden fühlen. Da wir einen Krieg nicht verhindern können, werden wir seine Wunden heilen. (...)”" (FT, 484) Diese Überzeugung setzt die Protagonistin nach Graves Tod in die Tat um, indem sie sich als Krankenpflegerin in ein afrikanisches Kriegslazarett aufmacht. Flöte und Trommeln zeigt, wie klar und differenziert Hilde Spiel die politische Lage erkannte und macht das eigene Ringen um eine Entscheidung deutlich. Die Konsequenz, die sie bei der Beendigung des Romans, im Januar 1938, für sich bereits gezogen hatte, war eben der Weg ins Exil. An dem 1961 erschienenen Emigrantenroman The Darkened Room (Lisas Zimmer)”, in dessen Zentrum das Schicksal der Exilanten und die politischen Verzerrungen des Kalten Krieges stehen, ließe sich die politische Wirkungsabsicht Hilde Spiels ebenso deutlich nachweisen. Gleichermaßen in ihrem Filmskript Anna und Anna“, das das Leben im Exil anhand einer Doppelgängerfigur dem Leben unter dem N ationalsozialismus gegeniiberstellt, Die Darstellung der AnnaT in Wien zeigt, daß das entscheidende Kriterium für Hilde Spiel in der Tat war, inwieweit ein Mensch sich seine "Anständigkeit" bewahrt hatte. In ihrer Autobiographie bezieht sie sich auf Arthur Koestler mit dem Ausspruch, daß "man nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf der ’heroischen’ oder ’tragischen’ Ebene"» verbringen kann. Die Korruption schleicht sich unweigerlich durch den Alltag ein. Dennoch demonstriert Anna I einen Widerstand der kleinen Schritte, indem sie unter eigener Gefährdung eine Verfolgte versteckt und einer Widerstandsgruppe nach ihren Möglichkeiten hilft. Es ist bezeichnend, daß der ärgste-Opportunist in Anna und Anna, Stefan, am Schluß zum Opfer seiner eigenen Schläue und Feigheit wird. Erfreulicherweise sind drei der frühen Romane Hilde Spiels mittlerweile neu herausgegeben worden. Lisas Zimmer dagegen ist zur Zeit überhaupt nicht erhältlich. Es wäre zu wünschen, daß möglichst bald eine Werkausgabe in Angriff genommen wird, in der auch bisher unveröffentlichte Schriften, wie der leider nur mehr fragmentarisch erhaltene Roman Der Sonderzug, aufgenommen werden könnten. Das (Wieder)Lesen lohnt sich allemal. Fortsetzung von Selte 4 Höhepunkt des heurigen Jahres werden Veranstaltungen in Saarbrücken sein, an denen sich von österreichischer Seite die Robert Musil-Forschungsstelle, das Institut für Theaterwissenschaften und die Jura Soyfer-Gesellschaft beteiligen. Bereits fixiert ist ein Symposium im Dezember, zu dem Wissenschaftler aus Europa und den USA eingeladen werden. Themenschwerpunkt: Europa und die multikulturelle Existenz. Anmerkungen zu "Der Zwang zur Vernunft" 1 Hilde Spiel, "Das Ende der Narrenfreiheit", in: Nachdenken über Politik, Graz 1985, S. 230-32. Zit.: S. 230. 2 Dies., "Dankrede" zur Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 2 (1988), S. 811 ff. Zitat S. 816. 3 Hilde Spiel, Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946-1989, München: List 1990, vgl. S. 142-46; ebenso: Frank Tichy, "Ein fauler Hund", in: Forum, Sept./Nov. 1988, S. 60-67. 4 "Sehr geehrte Herren", Brief vom 20. Juli 1971, St. Wolfgang am See, in: Hans Joachim Müller (Hrsg.), Butzbacher Autorenbefragung: Briefe zur Deutschstunde, Miinchen: Ehrenwirt 1973, S. 169-70. 5 Hilde Spiel, Kati auf der Briicke, Wien: Paul Zsolnay Verlag 1933, neu erschienen in einer Gesamtausgabe von drei frühen Romanen: Frühe Tage, München/Hamburg: Knaus 1986. Im folgenden zitiert als "KB" nach der Ausgabe von 1986, die Seitenzahlen werden im Text in Klammern angegeben. 6 Vgl. Karl Prümm, "Jugend ohne Väter. Zu den autobiographischen Jugendromanen der späten zwanziger Jahre", in: Thomas Koebner/Rolf . Peter Janz/Frank Trommler (Hrsg.), ’Mit uns zieht die neue Zeit’. Der Mythos Jugend, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 563-589. 7 Vgl. S. 40 in: Thomas Koebner, "Das Drama der Neuen Sachlichkeit und die Krise des Liberalismus", in: W. Rothe (Hrsg.), Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S. 19-46. Die hier beschriebenen Merkmale des "sachlich-praktische(n) Held(en)", Vorrang sachlicher Entscheidungen vor emotionalen, Trennung von Verstand und Gefühl, Tatkraft, treffen auf die Figur Piet Stuyvesant genau zu. 8 Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten, München: List 1989, S. 82. 9 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Akten Nr. 537 und Nr. 2462. 10 0.V., "Neunzehnjährige als Romanautorin", Wiener Sonn- und Montagszeitung, 27.02.1933. 11 MJ., "Hilde Spiel: Kati auf der Brücke.", Neues Wiener Abendblatt, 21.07.1933, S. 5. 12 Hilde Spiel, Flute and Drunis, London: Hutchinson 1939; Flöte und Trommeln, Wien: Wiener Verlag 1947, Hamburg: W. Krüger 1949; auch in: Frühe Tage, München/Hamburg: Knaus 1986. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe von 1986 als "FT", die Seitenangaben erscheinen im Text. 13 Hilde Spiel, The Darkened Room, London: Methuen 1961; dt. Übersetzung: Lisas Zimmer, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1965, 1982; München: DTV 1968, 1984. 14 Hilde Spiel, Anna und Anna, Wien: Kremayr & Scheriau 1989. 15 Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten, S. 103.