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10 Friedrich Achberger Wenn ich ein einziges Wort wählen müßte, um die österreichische Situation in den dreißiger Jahren zu kennzeichnen, würde ich "Limbus" wählen, das Zwischenreich bzw. die Vorhölle, im Englischen gebräuchlicher in der flektierten Form "in limbo", in der Schwebe. Und wenn ich ein Bild wählen müßte, würde ich mir einen schizophrenen Karnevalsteilnehmer vorstellen, der unter den zur Verfügung stehenden Masken und Kostümen kaum zu wählen vermag und unter den widersprüchlichen Einflüsterungen seiner vermeintlichen Freunde und Nachbarn schier zusammenbricht. An Masken und Kostümen standen dem österreichischen Staat zwischen 1930 und 1940 zur Wahl: die bürgerlich-parlamentarische Republik, wie sie während der zwanziger Jahre de facto bestand; eine sozialdemokratisch-reformistische Republik mit Anschlußhoffnungen an die Weimarer Republik; Rückkehr in einen lockeren Staatenbund mit den Ländern der ehemaligen Habsburgerkrone (TardieuPlan); . Restauration der Monarchie; das mittelalterliche Gewand einer ständisch-hierarchisch geordneten Gesellschaft, wie es 1933-38 dem Staat tatsächlich übergeworfen wurde; schließlich die SA-Uniform (ab März 1938). Daß alle sechs Möglichkeiten - und noch mehr, wenn man die Varianten einbezieht - im historischen Maskenverleih der dreiBiger Jahre vorrätig waren, steht außer Zweifel; freilich läßt sich schwerlich von einer Entscheidungsfreiheit des Staatssubjekts ausgehen. Für die Theorie der Ungleichzeitigkeit jedenfalls, die Ernst Bloch an und noch während der Weimarer Republik entwickelte (Erbschaft dieser Zeit, 1935), bietet die Erste Republik Österreich, insbesondere während der dreißiger Jahre, eine Fülle von Belegen: Österreich ist geradezu ein Wachsfigurenkabinett der ungleichzeitigen Ideologien. Zum Teil sind diese bereits in den angeführten Staatsmasken auszumachen: neben der zeitgemäßen parlamentarisch-demokratischen Option steht die zukunftsorientierte sozialdemokratische, die gleichwohl eine Menge bürgerlichen Ballast aus dem 19. Jahrhundert mitführt (1848, Groößdeutschlandpathos etc.); daneben eine antiindustrielle, ländlich-provinzielle und dabei diffuse Ideologie, die vor allem auf regionale Autarkie und auf Abwehr alles "Fremden" zielt und dabei leicht vereinnahmt werden kann; sodann das Bündel katholischer Ideologien, das von der Abfahrt in die Vergangenheit auf verschiedenen Gleisen träumt: franzisko-josephinisches Kaisertum, oder weiter zurück ins "Heilige “ Führung, oder über die sozialpolitischen päpstlichen Enzykliken (1891, 1931) zu mittelalterlichen Gesellschaftsmodellen. Von den nationalsozialistischen Ungleichzeitigkeiten ist hier dem bekannten Bild nur der Zug hinzuzufügen, daß der österreichische Sympathisant nicht nur Erlösung aus der Wirtschaftskrise, sondern mehr noch Erlösung aus der Identitätskrise erhoffte, die seit der Auflösung der Donaumonarchie 1918 andauerte. Gegenüber dem obigen "Limbus" sehen dagegen die historischen Stationen der dreißiger Jahre täuschend einfach und klar aus: 1933 Ausschaltung des Parlaments, "autoritäre" Regierung des christlich-sozialen Kanzlers Dollfuß; Februar 1934 Zer-schlagung der Sozialdemokratie nach letzter Gegenwehr; Juli 1934 fehlgeschlagener nationalsozialistischer Putsch, dem aber Dollfuß zum Opfer fällt; Juli 1936 Abkommen mit Hitler, bei dem Kanzler Schuschnigg wesentliche Konzessionen macht bzw. machen muß; 12. März 1938 Einmarsch deutscher Truppen, um eine Volksabstimmung über Österreichs Unabhängigkeit zu verhindern. Was auf den ersten Blick auffällt, ist die charakteristische Verzögerung der Ereignisse gegenüber Deutschland: die Linke überlegt ein Jahr länger - und gibt nicht kampflos auf und die Faschisierung von Staat und Gesellschaft geht langsamer vor sich. Der Grund hiefiir ist unter anderem im komplexeren Spannungsfeld der Ideologien zu suchen, wovon meine Kostiimkunde nur eine Andeutung geben konnte; was man negativ eine größere Unübersichtlichkeit der Situation nennen könnte, war eben auch - positiv gesehen - eine größere Anzahl von Optionen. Als ein Forum der fiktionalen Selbstverständigung und Meinungsbildung ist nun die österreichische Literatur der dreißiger Jahre ausnahmslos in diesen spannungsreichen Rahmen von politischen Entscheidungen, historischen Reminiszenzen und Zukunftshoffnungen eingespannt. Diese grundsätzliche Tatsache werden nur Anhänger eines Autonomiekonzeptes von Kunst und Literatur leugnen, zu denen ich mich keineswegs zähle; es zeigt sich jedoch beider österreichischen Literatur der dreißiger Jahre geradezu die umgekehrte Gefahr, daß literarische Texte in der sozialgeschichtlichen Darstellung von ihrer zeitgenössischen Aktualität fast erschlagen werden. Weniger denn je läßt sich jene Literatur - sei sie von Juden geschrieben, die bereits mit der Flucht rechnen, oder von Katholiken, die von einer Restauration träumen, oder von Autoren, die zugleich für den nationalsozialistischen deutschen wie für den ostentativ anti-nationalsozialistischen österreichischen Markt schreiben wollen ohne ihre konkreten und komplexen Rahmenbedingungen verstehen. Zugleich aber dürfen diese Texte nicht auf ein bloßes Parteigängertum reduziert werden. Denn gerade aus der Literatur als jenem Medium, in dem sich private und öffentliche Selbstverständigung, rationaler und emotionaler Diskurs vermengen, läßt sich ein weitaus differenzierteres Profil jener Epoche gewinnen, ein Psychogramm der Zeiterfahrung, das die Epoche genauer ausleuchtet als bloß nach politischen Gruppierungen. Theodor Kramer Bei Erscheinen seines vierten Gedichtbandes, Mit der Ziehharmonika (1936), war Theodor Kramer, geb. 1897, kein Unbekannter mehr, aber er war dabei, ein Vergessener zu werden. Zehn Jahre zuvor hatte Kramer begonnen, regelmäßig Gedichte in der Wiener Arbeiter-Zeitung zu veröffentlichen; 1928 erschien sein erster Gedichtband, Die Gaunerzinke, die ihm in Deutschland und Österreich breite Wirkung einbrachte (u.a. Kunstpreis der Stadt Wien, Lyrik, 1928), und bis 1933 kam es zu zwei weiteren Gedichtbänden und regelmäßigen Veröffentlichungen