OCR
in Weltbühne, Tagebuch, Deutscher Republik usw. Nach der Machtübernahme verbat er sich weitere Veröffentlichungen in : Deutschland, nach der Zerschlagung der Sozialdemokratie in Österreich ging ihm auch deren Öffentlichkeit verloren: obwohl Kramer kein Parteidichter war, wie zu erweisen ist, blieb ihm im 'Ständestaat nur der Weg in die Isolation, den er mit vielen Autoren teilte. So ist Mit der Ziehharmonika mit 136 Gedichten der umfangreichste der zu Lebzeiten erschienenen acht Gedichtbände Kramers und hat mit Sicherheit die wenigsten Leser gefunden, wenn man von den ca. 30 Zeitschriftenerstveröffentlichungen darin absieht. Mit Hinweis auf Robert Musil könnte man hier von einem "Nachlaß zu Lebzeiten" sprechen, denn Musils Situation, als er im selben Jahr 1936 sein letztes Buch in Zürich erscheinen ließ, war der Kramers durchaus analog. VON DEN ERSTEN FAHRRÄDERN IM MARCHFELD Dazumal, vor guten vierzig Jahren, als wir noch zwei braune Burschen waren, sind im Marchfeld, weit und wegverkommen, grad die ersten Räder aufgekommen. Und die Flecken, die in jenen Tagen, voneinander noch entfernter lagen, haben sich nun in den ein, zwei blassen Abendstunden leicht erreichen lassen. Und es hat bis an die Grenze droben bald ein großes Fahren angehoben zu den Ziegelhöfen in den Senken, zu den. aufgespürten Bretterschenken. Und ‚wir haben seltsam unterm Gleiten es empfunden, unsre Heimlichkeiten nun auf viele Dörfer zu verteilen, fern und nah, und nirgends zu verweilen. (Erstdruck Anthologie österreichischer Lyrik, Hg. E. Rieger, 1931) Bei der ersten Lektüre mag dieses Gedicht einen nostalgischen Beigeschmack haben, wenn man das reminiszierende Rollen-Ich beim Gedanken an die Zeit belauscht, "als wir zwei noch braune Burschen waren". Beim genaueren Hinhören entpuppt sich die etwaige Sentimentalität jedoch als eine trockene, die hinter der Häufung der Konkreta nahezu verschwindet: hinter der geographischen Genauigkeit und dem historischen Zeitpunkt (ca. 1890) und den so bewußt in Besitz genommenen Fahrrädern. Das Gedicht erfaßt einen globalen Wandel (Industrialisierung) im quasi zur Zeitlupe verlangsamten Moment eines konkreten Modernisierungsschubs, der Beweglichkeitsrevolution auf dem Lande. Gerade im grotesken Kontrast zwischen den Fahrrädern und dem, was dahinter steht (ringförmige Schockwellen der Industrialisierung, die ja nicht nur Emanzipation, sondern auch Entfremdung bringt), wird die stille Aussagekraft dieses Textes evident: er bildet ein Allgemeines, Abstraktes in einem kleinen, individuell und sinnlich nachvollziehbaren Moment ab. Mit einer für die ländliche Region typischen Verspätung (Marchfeld, Ebene östlich von Wien, abseits der Verkehrswege) fängt Kramer genau das Phänomen der zwiespältigen Bewußtseinsveränderung ein, das durch die Eisenbahnfahrt im 19. Jahrhundert allgemein erfahren wurde (vgl.Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, 1977, Sternberger, Panorama, 1938). Gehen wir noch etwas näher heran: Strophe 1 fixiert den geschichtlichen Punkt und die Lokalisierung mit der für Kramer so wichtigen Bestimmung: abseits. Strophe 2 umreißt das dörf11 liche Umfeld und die enge Beschränkung der Freizeit (also Arbeitermilieu). In Strophe 3 wird das scheinbar enthusiastische "große Fahren" genau begrenzt durch die Bezeichnung der Anfangs- und Endpunkte der Fahrten, die Arbeits- und Vergnügungsstätten, Ziegelöfen und Bretterschenken. Dennoch kommt die Bewegung, die Entgrenzung, die Aktivität, die Befreiung hier vital zum Ausdruck. Strophe 4 zieht das Fazit aus der Revolution: eine Erfahrungsöffnung, "seltsam empfunden", also mit gemischten Gefühlen. Als Schlüsselwort ist wohl das "Gleiten" anzusehen, in dem sich das konkrete Radfahren mit dem geschichtlichen Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Epoche, von der Erfahrung der aussichtslosen Abgeschiedenheit zur beginnenden Befreiung der Arbeiter verbindet. Daß die Bewegung kollektiv und vorwiegend positiv erfahren wird, bringt diesen Text in die Nähe der sozialdemokratischen Literatur, wenn auch mit einem charakteristischen Abstand (abwegiges Sujet, Primat des Gefühls). Was diesen Kramer-Text von typischen parteinahen Texten, z.B. des Dichters Josef Luitpold (1886-1966), unterscheidet, ist vor allem der geringe Abstraktions- und Verallgemeinerungsgrad, sowie der leicht skeptische Ton, der sich auch gegen das Beifreiungspathos behauptet. Kramer ist ein durchaus der Tradition verbundener Dichter, und zwar nicht nur formal, also in der Volksliedstrophe und im einfachen Reimschema - das Oeuvre weist kein einziges reimloses Gedicht auf! - sondern auch im Genrebildhaften und in der Geschlossenheit seiner Gedichte. Umso krasser tritt daher der Traditionsbruch, das Antikonventionelle aus der scheinbar biederen Form heraus, ohne sie endgültig zu brechen. DER EINSTIEG Des Irr'ns durch die Stadt war der Alte schon matt, Frost klirrte durch Pflaster und Pfahl; da hob er das Gitter und blickte zur Stadt und stieg in den Sammelkanal. Sein Klingenstumpf trennte den Mörtel, zur Not genügte die Nische als Bett; er fischte im Spülicht nach Knorpeln und Brot und schöpfte vom Schaum ab das Fett. So lag er im Einstieg und sah unter sich die Ratten nur rudern und zerrn; der Tag, der im Gitter entstand und verstrich, war einzig ein lautloser Stern: Und mählich erstarben Gehör und Gesicht, die Fußnägel wurden ihm fremd; die alten Gewandläuse wollten ihn nicht, so klebrig und schwarz war sein Hemd. Und er spürte noch sprachlos im Rücken die Hand, die ihn zerrte aus finsterer Ruh in den überaus weißen und brausenden Brand und er stieß mit dem Klingenstumpf zu. Dies ist keine Mitleidslyrik, wie sie seit dem Ende des 19. . Jahrhunderts in der Arbeiterbewegung - im Anschluß an die sozial empfindende bürgerliche Literatur - zu finden ist, es ist aber auch nicht primär ein anklagendes Gedicht, sondern es konstruiert ein Existenzextrem. Es dokumentiert nicht, wie die gleichzeitige Sozialreportage etwa der Neuen Sachlichkeit, sondern konstruiert, und erfaßt dadurch mehr als den bloßen sensationellen Fall eines "Aussteigers". Auch in diesem Gedicht finden wir "Bewegung", jedoch fort vom Menschlichen in eine