extreme Abseitsposition: den Übergang vom Menschen zur
Natur. Der Alte nimmt mit einem letzten Blick Abschied von der
Zivilisation, der Stadt, wo ihm offensichtlich nicht genug
"Menschlichkeit" zuteil geworden war; er findet sich eine letzte
Nische, die durchaus symbolisch nur eine Armlänge über der
Rattensphäre liegt. Im Verlust der Sinne - bis auf den Ernäh¬
rungstrieb - spiegelt sich das Abstreifen der menschlichen Qua¬
litäten, das halb freiwillig und halb gezwungenermaßen ge¬
schieht. Das Schlüsselwort ist wohl die "finstere Ruh" der letzten
Strophe, die nicht wertend gemeint ist, sondern in der Schwebe
von "finster" (unmenschlich; Zivilisationswiderruf) und "Ruh"
(Frieden, Glück) genau die Zwischenlage bezeichnet. Nur so
läßt sich die Reaktion des Bettlers, der sich seiner unter den
Bedingungen der Wirtschaftskrise nutzlos gewordenen Huma¬
nität begeben hat, auf den Versuch verstehen, ihn wieder ans
Licht der Zivilisation zu zerren: In seiner konkreten Erfahrung
hat diese ihren Anspruch auf ihn verwirkt.
FÜR DIE, DIE OHNE STIMME SIND...
Schön sind Blatt und Beer
und zu sagen wär
von der Kindheit viel und viel vom Wind;
doch ich bin nicht hier,
und was spricht aus mir,
steht für die, die ohne Stimme sind.
Für des Lehrlings Schopf,
für den Wasserkopf,
für die Mütze in des Krüppels Hand,
für den Ausschlag rauh,
für die Rumpelfrau
mit dem Beingeschwür im Gehverband.
Ohne Unterlaß
spricht es, viel schwingt Haß
mit, ich bin nicht bös und bin nicht gut;
wenn ich einsam steh,
wenn ich schlafen geh,
dünkt es mich, ich hab den Mund voll Blut.
Wehrt mir, Leute, nicht,
der ich so im Licht
niedrig steh und sing: es währt nicht lang;
eine kurze Zeit
hört ihr großes Leid
und vielleicht ein wenig auch Gesang.
Der Titel diese Gedichts dient auch als Motto des Bandes Mit
der Ziehharmonika. "Für die, die ohne Stimme sind" gehört zu
einer Handvoll Texten, in denen Kramer beinahe ein Programm
entwirft, wie immer mit einer Abkehr von herkömmlichen
Sujets, einer Wendung ins Abseits (vgl. auch "Die Orgel aus
Staub"). In der anti-autobiographischen ersten Strophe ("ich bin
nicht hier") könnte man den Dichter der Arbeiterbewegung
vermuten, der sich zum Sprachrohr stilisiert; dagegen spricht
jedoch der Themenkatalog der zweiten Strophe: diese Subjekte,
diese Themen, die Niedrigsten und Kranken, die liegen sogar
jenseits des Einzugsgebiets der Sozialdemokratie. Der Dichter
spricht nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern für die Existen¬
zen, die selbst in der proletarischen Hierarchie noch zu dennach
unten Ausgegrenzten gehören. Hier liegt auch ein wesentlicher
Grund für die unverminderte Authentizität dieser Texte. Das in
der dritten Strophe entwickelte Motiv der Schwebe zwischen
"bös" und "gut", das schon im "Einstieg" angedeutet war, wäre
nicht nur in der zeitgenössischen katholischen oder heimattreu¬
en Literatur unmöglich gewesen, deren ganzes Anliegen auf
Wertungen gerichtet ist, aufs Bekräftigen des Rechten und "Ge¬
sunden", aufs Verdammen des Falschen und "Dekadenten" (z.B.
MaxMell); diese Schwebe steht auch entschieden außerhalb des
strikt ethischen Anspruchs der Sozialdemokratie. So hatte
Kramer ausgerechnet mit seinen Kriegsgedichten (Wir lagen in
Wolhynien im Morast..., 1931) den Zorn Josef Luitpolds erregt,
der Kramers Buch mit einer scharfen Kritik unter dem Titel
"Morast der Gleichgültigkeit" zu ächten versuchte. Unser vor¬
läufiger Befund, daß Kramers Position unwiderruflich zwischen
den Fronten liegt, wird noch zu stützen sein; es ist jedenfalls
keine zufällige oder rein individuelle, sondern eine für den
unabhängigen österreichischen Juden typische Position. Die So¬
lidarisierung mit denen, "die ohne Stimme sind", gehört zu der
Erfahrung der Heimatlosigkeit, die aus der zunehmenden Pola¬
risierung der österreichischen politischen Sphäre seit Mitte der
zwanziger Jahre resultiert, zunächst zwischen Sozialdemokratie
und Konservativismus, ab 1934 zwischen Klerikalpatriotismus
und Nationalsozialismus. Nur bei den Ausgegrenzten findet
Kramer sagbare Erfahrung, und im schwebenden Bild vom
"Mund voll Blut" findet sich beides: Schmerz und Verletzung,
aber auch das Blut der Vitalität, des authentischen Lebens
schlechthin.
Hinterm Viehmarkt, im plankenverbauten Revier
gibt es Herbergen, zwölf oder zehn,
für ihr billiges Obdach verschwiegen bekannt,
in die, wenn es soweit ist, die Paare vom Rand
gern zum letztenmal nächtigen gehn.
Und die Kammern empfangen sie ganz ohne Dunst,
ohne Schelte und Kindergeschrei
mit Geräumigkeit, wenig genossen zu Haus,
und sie rechnen im Bett an der Barschaft sich aus
stumm der Tage noch zwei oder drei.
Und sie schlafen bis tief in den hellichten Tag
und bestelin sich das Frühstück ins Bett;
seltsam schlaff drehn am Ständer sich Mantel und Hut
und die Sahne ist süß und die Butter schmeckt gut
und das Schinkenbrot saftig und fett. .
Und sie ziehn sich ein wenig zu Mittag nur an
und genießen nur Leichtes und Brüh,
daß nicht dick wird ihr Blut und beim Lieben sie stört
und das Summen des Lichts auf dem Flur überhört,
das den nötigen Gram leiht vor Früh.
Der Rand der Gesellschaft ist das Zentrum von Kramers poeti¬
scher Welt, und der Rand des Lebens an diesem gesellschaftli¬
chen Randbezirk wird zum Thema im Text "Die letzen Herber¬
gen". Es handelt von den Vorbereitungen zum Freitod, "wenn es
soweit ist", und von der Würde, die diese Randexistenzen im
letzten Augenblick noch einmal für sich in Anspruch nehmen.
Man beachte die räumlichen Signale in diesem Text: erst jenseits
des Viehmarkts, der die Grenze der städtischen Zivilisation
markiert, findet sich der letzte Freiraum für diese "Paare vom
Rand", also erst nach dem Durchgang durch ein viehisches
Stadium erfolgt die Läuterung, von der dieses Gedicht vor allem