OCR
12 extreme Abseitsposition: den Übergang vom Menschen zur Natur. Der Alte nimmt mit einem letzten Blick Abschied von der Zivilisation, der Stadt, wo ihm offensichtlich nicht genug "Menschlichkeit" zuteil geworden war; er findet sich eine letzte Nische, die durchaus symbolisch nur eine Armlänge über der Rattensphäre liegt. Im Verlust der Sinne - bis auf den Ernährungstrieb - spiegelt sich das Abstreifen der menschlichen Qualitäten, das halb freiwillig und halb gezwungenermaßen geschieht. Das Schlüsselwort ist wohl die "finstere Ruh" der letzten Strophe, die nicht wertend gemeint ist, sondern in der Schwebe von "finster" (unmenschlich; Zivilisationswiderruf) und "Ruh" (Frieden, Glück) genau die Zwischenlage bezeichnet. Nur so läßt sich die Reaktion des Bettlers, der sich seiner unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise nutzlos gewordenen Humanität begeben hat, auf den Versuch verstehen, ihn wieder ans Licht der Zivilisation zu zerren: In seiner konkreten Erfahrung hat diese ihren Anspruch auf ihn verwirkt. FÜR DIE, DIE OHNE STIMME SIND... Schön sind Blatt und Beer und zu sagen wär von der Kindheit viel und viel vom Wind; doch ich bin nicht hier, und was spricht aus mir, steht für die, die ohne Stimme sind. Für des Lehrlings Schopf, für den Wasserkopf, für die Mütze in des Krüppels Hand, für den Ausschlag rauh, für die Rumpelfrau mit dem Beingeschwür im Gehverband. Ohne Unterlaß spricht es, viel schwingt Haß mit, ich bin nicht bös und bin nicht gut; wenn ich einsam steh, wenn ich schlafen geh, dünkt es mich, ich hab den Mund voll Blut. Wehrt mir, Leute, nicht, der ich so im Licht niedrig steh und sing: es währt nicht lang; eine kurze Zeit hört ihr großes Leid und vielleicht ein wenig auch Gesang. Der Titel diese Gedichts dient auch als Motto des Bandes Mit der Ziehharmonika. "Für die, die ohne Stimme sind" gehört zu einer Handvoll Texten, in denen Kramer beinahe ein Programm entwirft, wie immer mit einer Abkehr von herkömmlichen Sujets, einer Wendung ins Abseits (vgl. auch "Die Orgel aus Staub"). In der anti-autobiographischen ersten Strophe ("ich bin nicht hier") könnte man den Dichter der Arbeiterbewegung vermuten, der sich zum Sprachrohr stilisiert; dagegen spricht jedoch der Themenkatalog der zweiten Strophe: diese Subjekte, diese Themen, die Niedrigsten und Kranken, die liegen sogar jenseits des Einzugsgebiets der Sozialdemokratie. Der Dichter spricht nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern für die Existenzen, die selbst in der proletarischen Hierarchie noch zu dennach unten Ausgegrenzten gehören. Hier liegt auch ein wesentlicher Grund für die unverminderte Authentizität dieser Texte. Das in der dritten Strophe entwickelte Motiv der Schwebe zwischen "bös" und "gut", das schon im "Einstieg" angedeutet war, wäre nicht nur in der zeitgenössischen katholischen oder heimattreuen Literatur unmöglich gewesen, deren ganzes Anliegen auf Wertungen gerichtet ist, aufs Bekräftigen des Rechten und "Gesunden", aufs Verdammen des Falschen und "Dekadenten" (z.B. MaxMell); diese Schwebe steht auch entschieden außerhalb des strikt ethischen Anspruchs der Sozialdemokratie. So hatte Kramer ausgerechnet mit seinen Kriegsgedichten (Wir lagen in Wolhynien im Morast..., 1931) den Zorn Josef Luitpolds erregt, der Kramers Buch mit einer scharfen Kritik unter dem Titel "Morast der Gleichgültigkeit" zu ächten versuchte. Unser vorläufiger Befund, daß Kramers Position unwiderruflich zwischen den Fronten liegt, wird noch zu stützen sein; es ist jedenfalls keine zufällige oder rein individuelle, sondern eine für den unabhängigen österreichischen Juden typische Position. Die Solidarisierung mit denen, "die ohne Stimme sind", gehört zu der Erfahrung der Heimatlosigkeit, die aus der zunehmenden Polarisierung der österreichischen politischen Sphäre seit Mitte der zwanziger Jahre resultiert, zunächst zwischen Sozialdemokratie und Konservativismus, ab 1934 zwischen Klerikalpatriotismus und Nationalsozialismus. Nur bei den Ausgegrenzten findet Kramer sagbare Erfahrung, und im schwebenden Bild vom "Mund voll Blut" findet sich beides: Schmerz und Verletzung, aber auch das Blut der Vitalität, des authentischen Lebens schlechthin. DIE LETZTEN HERBERGEN Hinterm Viehmarkt, im plankenverbauten Revier gibt es Herbergen, zwölf oder zehn, für ihr billiges Obdach verschwiegen bekannt, in die, wenn es soweit ist, die Paare vom Rand gern zum letztenmal nächtigen gehn. Und die Kammern empfangen sie ganz ohne Dunst, ohne Schelte und Kindergeschrei mit Geräumigkeit, wenig genossen zu Haus, und sie rechnen im Bett an der Barschaft sich aus stumm der Tage noch zwei oder drei. Und sie schlafen bis tief in den hellichten Tag und bestelin sich das Frühstück ins Bett; seltsam schlaff drehn am Ständer sich Mantel und Hut und die Sahne ist süß und die Butter schmeckt gut und das Schinkenbrot saftig und fett. . Und sie ziehn sich ein wenig zu Mittag nur an und genießen nur Leichtes und Brüh, daß nicht dick wird ihr Blut und beim Lieben sie stört und das Summen des Lichts auf dem Flur überhört, das den nötigen Gram leiht vor Früh. Der Rand der Gesellschaft ist das Zentrum von Kramers poetischer Welt, und der Rand des Lebens an diesem gesellschaftlichen Randbezirk wird zum Thema im Text "Die letzen Herbergen". Es handelt von den Vorbereitungen zum Freitod, "wenn es soweit ist", und von der Würde, die diese Randexistenzen im letzten Augenblick noch einmal für sich in Anspruch nehmen. Man beachte die räumlichen Signale in diesem Text: erst jenseits des Viehmarkts, der die Grenze der städtischen Zivilisation markiert, findet sich der letzte Freiraum für diese "Paare vom Rand", also erst nach dem Durchgang durch ein viehisches Stadium erfolgt die Läuterung, von der dieses Gedicht vor allem