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handelt. Daher auch das Vorherrschen der hellen Töne, auch wenn sie nur im Kontrast mit der fast verschwiegenen Verzweiflung hell klingen. Diese Läuterung ist freilich kein religiös-individualistisches Erlebnis, sondern eine punktuelle Menschwerdung, die für die "Paare vom Rand" ein kurzfristiges Einholen der Utopie vom menschenwürdigen Dasein bedeutet, und die im konstruierten Gedichttext den Gegenentwurfbildet, vor dem implizit die alltägliche, unmenschliche Gesellschaftsverfassung angeklagt wird. Daß die Anklage jedoch so implizit gefaßt ist und daß der Lebensgenuß so sehr im Vordergrund steht, sind charakteristische Züge von Kramer, die in der herkömmlichen sozialen Lyrik selten zu finden sind. Eine charakteristische Erfahrung, die in allen Gedichten der Ziehharmonika anzutreffen ist, betrifft die konkrete Sinnlichkeit der Existenz, die vor keiner Berührung zurückscheut: im ErFahren der Marchfelder Landschaft genauso wie im Umgang mit dem Aas ("Die Aasgräber") oder den Ratten ("Der Einstieg") oder in der Hinwendung zum Beingeschwür der Rumpelfrau. Diese Sinnlichkeit durchbricht nicht nur literarische Tabus, sie hebt alle Grenzen auf, die Grenze zwischen Leben und Tod zerfließt in der sinnlichen Erfahrung ebenso wie die Grenze zwischen Mensch und Tier, und mehr noch: zwischen Mensch und Mensch, zwischen den Klassen. Sinnlichkeit und Stofflichkeit sind die Feinde der Abstraktion, und damit auch der Ideologisierung. Sie verhindern, daß diese Texte in bloBer Mitleidsgeste erstarren oder zu einer schematisierten sozialen Anklage werden, bei der der Sprecher sich immer im Recht weiß. Die säuberlich scheidenden Begriffe gut und böse sind aus dem Text verbannt, an ihrer Stelle herrscht die sinnliche Erfahrung, bitter und süß zugleich. Dahinter steht freilich kein Indifferentismus, sondern ein unausgesprochenes soziales Ethos, das sich an keinen Genuß verlieren kann, ohne des Leidens ringsum gewahr zu werden; das sich auch mit keinen Konventionen und Abstraktionen vor dem Ansturm des Leidens panzern will: ein Ethos der totalen Empathie. Und dies wiederum ist auf eine andere Weise politisch, nicht parteipolitisch und auch nicht jenseits der Parteien, sondern diesseits der Parteien, auf eine konkret-alltägliche Weise. Schon in Kramers früheren Gedichtbänden tönt die lyrische Stimme meist aus dem Abseits, besonders in der Gaunerzinke (1928), die die Lebenserfahrung von gesellschaftlichen Randgruppen vor allem in Rollengedichten erfaßt. Was in den früheren Texten jedoch oft als zeitlose Erfahrung auftaucht (z.B. die des Vagabunden, siehe Titel), das ist 1936 oft klar historisch verankert: punktuelle Erfahrungen im Gefolge der Industrialisierung und ihrer Krise um 1930 kommen ohne Verallgemeinerungen scharf in den Blick. Dies ist die historische Dimension, die Kramers Texte von fast der gesamten zeitgenössischen bürgerlichen Lyrik unterscheidet, während die Distanz zur Lyrik der Sozialdemokratie (Luitpold, Brügel, Soyfer etc.) in der Konkretion von Kramers Texten und in der völligen Unbehaustheit seiner lyrischen Subjekte liegt. Kramers eigentiimliche und symptomatische Stellung ist jedoch am besten durch die Gegenüberstellung mit einem repräsentativen Lyriker zu erhellen, ohne daß wir zu diesem Zweck ganz ans andere Ende des Spektrums gehen müssen, da Weinheber mit Kramer, zumindest in der Ausgangssituation, viel gemein hat. Josef Weinheber Wie Kramer ist auch Weinheber unverkennbar ein "Wiener Dichter", doch haben beide der Herkunft und dem Sujet nach 13 einen stark ländlichen Einschlag. Während Kramer auf dem Lande, wenige Kilometer nördlich von Wien (Niederhollabrunn) geboren wurde und seine Kindheit verlebte, stammt Weinheber aus einem westlichen Wiener Randbezirk (16., Ottakring) und zog erst nach seinen ersten Erfolgen 1937 aufs Land. Weinheber empfand jedoch seine Herkunft vom Rande (Wien weist eine ausgeprägte soziologische Gliederung auf) zeit seines Lebens als Makel, während Kramer gerade daraus seine. Stärke bezog. Beide Autoren veröffentlichten wesentliche Werke in der Wiener Arbeiter-Zeitung: Weinheber seinen ersten Roman, "Das Waisenhaus", 1924, Kramer zahlreiche Gedichte 1926-34. Während Kramer jedoch schon in den zwanziger Jahren als Lyriker breite Wirkung erreichte, wurde Weinheber erst mit seinem vierten Gedichtband, Adelund Untergang (1934), berühmt. Der frühe Weinheber wurde noch von Theodor Lessing als "proletarischer Dichter" eingeschätzt und geschätzt. Weinheber schreibt durchgehend zweigleisig: einerseits Hymnen, Oden, fast alle klassischen lyrischen Formen, mit jeweils höchstem künstlerischen Anspruch; andererseits einfache Formen mit volkstümlicher Intention, z.T. in Mundart und spezifisch regional orientiert. So folgt auf den anspruchsvollen Band Adel und Untergang das mundartliche, lockere Wien Wörtlich (1935), darauf wiederum die durchkomponierte Späte Krone (1936), die vor allem Kunst thematisiert, und darauf das "erbauliche Kalenderbuch für Stadt- und Landleut" O Mensch, gib acht (1937), mit dem wir uns hier näher befassen werden. Der letzte von Weinheber vor dem ’Anschluß’ veröffentlichte Band O Mensch, gib acht, der im November 1937 im Münchner Verlag Langen-Müller erschien, ist nicht nur für die Situation der Lyrik im offiziellen Österreich der dreißiger Jahre charakteristisch, sondern auch für den Balanceakt zwischen österreichischem und deutschem Markt (der im übrigen für Kramer gar nicht in Betracht kam, dessen kleiner Wiener Verlag Gsur nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich auf deutsche Intervention hin Beschlagnahmen erlitt [vgl. Hermynia Zur Mühlens Roman Unsere Töchter, die Nazinen, 1935]). Aus der Veröffentlichung bei einem prominenten Verlag des Dritten Reichs allein lassen sich zwar noch keine Schlüsse auf einen parteifrommen Inhalt ziehen, denn bei Langen-Müller erschien auch das den Nazis manchmal unbequeme Innere Reich; doch läßt sich zunächst soviel sagen, daß dieser Weinheber-Band mit hoher Startauflage (20.000) sowohl im offiziellen Deutschland als auch im offiziellen Österreich lanciert wurde. Die in den Jahren 1933 bis 1937 entstandenen und zum Teil auch schon in Kalendern erschienenen Gedichte des Bandes O Mensch, gib acht ordnen sich in 12 Monatsgruppen zu je 7 Gedichten und bilden im regional gefärbten und begrenzten Schema des Kalenderbuchs eine quasi kosmische Ordnung ab. Bei der Analyse dieses Gedichtbandes sind daher zwar einerseits die Gattungszwänge in Rechnung zu stellen, die wie ein altertümliches Korsett den Ausdruck dieser Lyrik eingrenzen; andererseits bildet gerade der Rekurs auf die "ungleichzeitige" (gleichwohl überaus beliebte) Form des Kalenderbuchs bereits eine unmißverständliche Aussage. Das Genre ist also nicht nur ein Zwang, z.B. wenn Weinheber sich mit Erfolg abmüht, den "Kalenderton" zu "treffen", sondern eher noch eine freiwillig eingegangene Begrenzung, die sich gegenüber der als chaotisch und bedrängend empfundenen Wirklichkeit als Stütze und mächtige Ordnungshilfe erweist. Hier sind wir im Herzen der Sache, bei der Spannung zwischen archaisierender Form und zeitgenössischer Wirkungsintention, beim Versuch einer Revitalisierung, um nicht zu sagen Restauration (nicht aber: Umfunktionierung!)