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Gerda Hoffer Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Zu ihrer Schmach hat aber auch die Welt seiner Gegenwart dem Mann, dem die größte schauspielerische Leistung des Jahrhunderts gelang, nur sehr wenig Kränze geflochten. Leo Reuss spielte nicht nur seinem Publikum, sondern auch seinen Kollegen, seinem Direktor, ja sogar dem großen Max Reinhardt etwas vor; er stand nicht nur allabendlich für kurze Zeit auf der Bühne, sondern repräsentierte seine Glanzrolle, den Bauern Kaspar Brandhofer, viele Monate lang, 24 Stunden am Tag. 50 Jahre später erinnert sich kaum jemand an diesen so unglaublich talentierten Künstler, und wir wissen leider nur sehr wenig über sein Leben vor und nach der Brandhofer-Episode... Leo Reuss wurde vor genau hundert Jahren am 30. März 1891 in Dolina, Galizien, als Leo Johann Reiss geboren. Gleich anderen seiner Generation verbrachte er als Schüler so manchen Abend am Stehplatz des Burgtheaters. Bevor er sich einer schauspielerischen Laufbahn widmen konnte, mußte er vier bittere Kriegsjahre durchleben. Er soll den Rang eines Oberstleutnants erreicht haben, mehrfach verwundet und schließlich ausgezeichnet worden sein. Kaum aus der Armee entlassen, ging Leo Reuss schnurstracks zum Theater. 1918 trat er als jugendlicher Liebhaber an der Neuen Wiener Bühne auf. Sein . dortiger Erfolg,öffnete ihm nach kurzer Zeit die Wege zu größeren Dingen. Hermann Roebbeling wurde aufihn aufmerksam, und bald arbeiteten die beiden jungen Leute zusammen in Hamburg an neuen und ungewöhnlichen Produktionen. Reuss begeisterte sich schnell für alles Neue und gehörte zu denen, die bemüht waren, das Theater aus seinen starren Formen aufzurütteln, und neue Wege der Darstellung zu finden. In Hamburg lernte er Erwin Piscator kennen, der 1920 an die Volksbühne in Berlin ging Mit Piscator kam Reuss nach Berlin und erweckte das Interesse Leopold Jessners, des Intendanten der Staatlichen Schauspiele. Jessner war so beeindruckt vom Talent des jungen Wieners, daß er ihm wichtige Charakterrollen in seinen radikal anti-naturalistischen Produktionen anvertraute. Aber auch die bekannte Berliner Schauspielerin Agnes Straub war von Leo Reuss stark beeindruckt, und das Paar zählte zu den "leuchtendsten Sternen des Berliner Theaterhimmels". Dieser verdunkelte sich rapide in den ersten Monaten des Hitlerregimes. Modernes Theater wurde nun als entartete Kunst betrachtet. Piscator hatte sich bereits 1931 von Deutschland abgewendet und war via Moskau nach New York gezogen. Dort landete auch Jessner über den Umweg Palästina. Reuss, als Judem und Modernem, waren die Tore aller deutschen Bühnen verschlossen. Aber auch in seiner Heimatstadt Wien war niemand bereit, dem bekannten Schauspieler aus Berlin eine Rolle anzuvertrauen. Drei Jahre lang zog er, Hut in der Hand, von Bühne zu Bühne, stets ohne Erfolg. Er versuchte sich als Manager von Agnes Straub, die seit 1935 ihr eigenes Theater in Berlin hatte, verbrachte jedoch den größten Teil seiner Zeit auf seinem kleinen Gütchen in Tirol. Seine Freunde warfen ihm vor, daß er dort ganz verbauere. Not macht erfinderisch, Verzweiflung noch mehr, Reuss begann sich mit unglaublicher Genauigkeit auf seine Glanzrolle vorzubereiten. Während er sich einen Bart wachsen ließ, lernte er nicht nur jede Nuance des Tiroler Dialektes, er studierte das Mienenspiel, die Bewegungen, den Gang, ja sogar die Handschriften seiner bäuerlichen Nachbarn. Nicht wenig Zeit verbrachte er mit der Erforschung von Haarfärbemitteln, bis er endlich ein Präparat fand, das sein schwarzes Haar so gut färbte, daß auch ein geübtes Auge es für natürlich blond halten mußte. Eines Tages verschwand der Schauspieler Leo Reuss. In Tirol dachte man, er sei nach Berlin zurückgekehrt; dort fiel seine Abwesenheit gar nicht auf. In diesen Tagen tauchte ein älterer, vierschrötiger Mann in Bauerntracht bei Max Reinhardt in Salzburg auf. Er erklärte dem amüsierten "Theatergott", daß er Kaspar Brandhofer sei, einen gutgehenden Bauernhof in Tirol habe, seit vielen Jahren in Bauerntheatern spiele und jetzt endlich halt gern in "an 19 richtigen Theater spüln möcht". Reinhardts amüsiertes Lächeln verwandelte sich bald in ein bewunderndes Staunen. Entzückt, ein Naturtalent entdeckt zu haben, gab er Brandhofer einen begeisterten Empfehlungsbrief an seinen Freund Ernst Lothar, den Direktor des Theaters in der Josefstadt. Es scheint, daß ein Brief Reinhardts einem Befehl gleichkam. Dem linkischen Bauern, mit dem unmodernen blonden Bart, wurde sofort eine große Rolle in einer Neuproduktion von Schnitzlers Fräulein Else anvertraut. Kollegen, Direktor, Regisseur waren von Reinhardts neuester Entdeckung begeistert. Er legte die Prüfung, die nötig war, um als Schauspieler zugelassen zu werden, ab und sprach im Burgtheater mit großem Erfolg vor. Es war geradezu unglaublich, wie schnell der bis jetzt an seine "Scholle gebundene Tiroler" lernte, sich richtig auf der Bühne zu bewegen, Hochdeutsch zu sprechen, sich in die Rolle des Herrn von Dorsday in "Fräulein Else" einzuleben. Obwohl er sich seinen Kollegen gegenüber scheu und wortkarg verhielt und so viel Zeit wie möglich allein in seiner Garderobe zubrachte, begannen doch Stimmen laut zu werden, die munkelten, daß Brandhofer kein Tiroler sein könne, Heinrich Schnitzler schöpfte als erster Verdacht, daß es sich hier um den Berliner Schauspieler Leo Reuss handle. Der Theaterfriseur wurde bestochen, die Haarfarbe genau zu überprüfen. Die Antwort lautete: "Garan