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Diese Perspektive auf den Ort der Herkunft ändert sich in dem Maße, in dem der Verlauf des Zweiten Weltkrieges eine Rückkehr nach Europa und Österreich denkbar werden läßt. Die "Heimkehr" nach Wien am 4. Dezember 1948 ist der letzte der lebensgeschichtlichen Brüche, die für Viertels autobiographisches Schreiben bedeutsam geworden sind. Das autobiographische Projekt nimmt nun die Gestalt eines "Wiener Breviers" an (das schließlich in "Die Stadt der Kindheit" teilweise ausgeführt wurde). Den Inhalt des "Wiener Breviers" charakterisiert Viertel im Frühjahr 1949: Reflexe der Vergangenheit, empfangen von der Gegenwart, die sich entschließen muß, Zukunft zu werden. Hier ist Brechung, in mehrfacher Hinsicht, angesprochen. Die "Zukunft von Gestern" kann aber von der Gegenwart ’entborgen’ werden. Die Doppeldeutigkeit von Erinnern und Vergessen bleibt jedoch erhalten (ihr Januskopf): Was Vergessen wurde, machte Raum fiir neues Ereignis: auch das, was nach uns kommt, wird vergessen sein wollen. Zukiinftige Kindheit... Ich antizipiere dich als eine Kindheit in fortgeschrittener Zeit. Was mich, als ich Kind war, geängstet hat, wird dann nicht mehr geistern können, das erwarte ich mit meiner besten Hoffnung. [...] Es stellte sich später heraus, wie gerechtfertigt die Angst der Kinder gewesen. Jawohl, prophetisch war unsere Kinderangst! Wäre es nicht gefährlich, das zu vergessen? Das Vergessen hat sein Risiko. Also erinnern wir uns! In seiner letzten Phase beschränkte sich das autobiographische Schreiben Viertels völlig auf die Zeit der Kindheit und der Jugend. Es hatte sich immer schon in diese Richtung bewegt. Wichtige Lebensperioden wie die Weimarer Zeit, die zu einer mehr memoirenhaften Darstellung geführt hätten, waren immer schon ausgeklammert gewesen. Über seine Beziehungen zu Salka Viertel und zu Elisabeth Neumann finden sich im autobiographischen Kontext höchstens Andeutungen - in einem autobiographischen Diskurs, der um die Probleme der Wiener Kultur der Jahrhundertwende gravitiert, verwundert das nicht. In dieser Wiener Kultur entstand aus der Befreiung oder Abstoßung vom familiären Umgang der Geschlechter noch lange kein emanzipiertes Bild der Frau, eher ein von Ranküne geladenes Bild der emanzipierten Frau, dem bei Altenberg und Schnitzler das "Mädel" und die Prostituierte entgegengesetzt wurden. Es war, als würden die Männer unter der Last, eine neue Welt zu entwerfen, der Frau nur als Bestätigung ihrer visionären Anstrengungen und Medium bedürfen. Zum anderen spielt hier Viertels eigenes, begründetes Mißtrauen gegen eine allzu rigorose Scheidung von Phantasie und Realität eine Rolle. Weder wollte er die Phantasie aus der Realität entlassen, noch die Realität gegen die Ergründung durch die Phantasie abschotten. Das Gegenwärtig-Reale bot ihm als Schreibenden weniger Spielraum als die schon ins Sagenhafte entrückte Kindheit und Jugend. Das "Brevier" entstand, indem ich die Wiederkunft in die Stadt meiner Kindheit, wie wir es als Kinder taten, als einen Faden in das Salz- und Tränenwasser der Vergangenheit hängte, damit sich das einstmals Erlebte daran kristallisiere. [...] Die Erinnerung sollte, vom Faden gereizt, sich selbsttätig ansetzen, hier und dort zu einem Kristall zusammenschießend. Der Faden war eben die Heimkehr, er spannte sich von der Kindheit, über Jugend und Mannesalter hinweg, vom Beginn des Lebens ... bis in das Noch-nicht-gewußte des Endes. Zu seiner Erstrecktheit gehörte die lange Spanne und Spannung des Exils, zu seiner Gerichtetheit das Motiv der Wiederkehr. Es stellte sich mir im Fortgang heraus, daß zur Kristall-Bildung sich eigentlich nur die Zeit bis 1914, bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges darbot. [...] Da kam dieser Krieg und brach sein Leben in zwei Hälften. Auch in der letzten Phase seines autobiographischen Schreibens seines autobiographischen Schreibens stellten sich für Viertel neue Widersprüche ein. Er lebte in einem Land, das er 1950 "zur Lüge entschlossen" nannte. Es gelang Viertel nicht mehr, die in zwanzig Jahren entstandenen Autobiographischen Fragmente im Sinne seiner neuen, letzten Konzeption zu überarbeiten oder zu ordnen. Der vorliegende Band ist daher notwendig Rekonstruktion. Viertel selbst war von einem durchgehenden Zweifel an der Authentizität des Erlebten getrieben und versuchte, im Rahmen einer kultur- und sozialgeschicht Notizen Berthold Viertels zu seiner Autobiographie Ein besonderer Teufel ist dazu bestellt, verlorene Zeit zu sammeln und zu summieren. Er ist fett und ältlich, etwas impotent und leise melancholisch. Trägt grauen Hut, Hornbrille und ganz schwarzen Überzieher. Überall wo Zeit verloren wird, steht er dabei und führt gewissenhaft Buch. Ich lerne jetzı, daß das Versäumte mächtig ist, dem Kommenden zu helfen. Der Wiener Knabe, der durch die Lagerhetze in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfuhr, daß er Jude war, es von Geburt an war, ohne es gewußt zu haben: was fing er mit diesem ihm brutal durch Schimpf und Schande öffentlich beigebrachten Wissen an, was fing dieses Wissen mit ihm an? [...] Wie wurde einer, ein noch kleiner Mensch, mit dem Gefiihl fertig, zu einer verachteten Minorität zu gehören? Suchte er Rückhalt in der Geschichte, oder lehnte leistende Geschichte, die allen Minoritäten ihr Menschenrecht erobern würde? [..] MdZ — Riickspiegel Das Blatt spriiht Leben. Seine neueste Nummer ist das beste Beispiel der editoriellen und informativen Frische des Organs. Typisch der Leitaufsatz Herbert Steiners "Mein Freund Erich Fried", ein einsichtsreiches, mit Hilfe vieler persönlicher Erinnerungen gezeichnetes Bild. (Will Schaber, Aufbau, New York, 13. September 1991)