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16 Realismus", wie er in der Form Ironie zu erringen wäre, doch die Suche nach einer Distanz zur eigenen Weltanschauung wird man ihr nicht absprechen können. Wesentlich konziser ist Erhards Analyse der "Schwärmer", die sich methodisch auf Peter Szondis "Theorie des modernen Dramas" stützt. Erhard entdeckt gerade im Gefüge von Form und Inhalt Musils Suche nach einer zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit angesiedelten Existenz: Musil übernimmt das konventionelle Formmodel, um durch dessen immanente Zersetzung eine den Inhalt widerspiegelnde formale Unbestimmtheit zu erreichen. Er sprengt nicht die dramatische Form wie die epischen Versuche der Moderne - er höhlt sie aus. Ähnliches gilt - so Erhard - für den Umgang mit der Romanform im "Mann ohne Eigenschaften". Erhard interpretiert damit den Mann ohne Eigenschaften durchwegs auf der Folie der Schwärmer. Als weltanschaulichen Ausgangspunkt solcher formalen Erosionen begreift er Musils "Prinzip der Paradoxie des Möglichen". Nachdem sich die Vorstellung einer auf mechanistisch-positivistischem Weg zu begründenden Weltordnung als haltlos erwiesen hat, wird der moderne Mensch zu der Einsicht verurteilt, daß eine umfassende Einheit des Daseins nicht zu gewinnen ist (...) Eine Flucht aus dieser existentiellen ErFortsetzung auf S. 17 Anmerkungen zu Rössler/Bruckner 1 Erika und Klaus Mann: Escape to Life. Deutsche Kultur im Exil. München 1991, S. 319 2 Nicht berücksichtigt sind hier die literarischen Anfänge Bruckners, als er unter seinem Geburtsnamen Theodor Tagger publizierte, sowie dessen nach 1945 entstandene Dramatik. 3 Ebd. 4 Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a.M. (14.Aufl.) 1979, S. 96ff 5 Zit.nach Günther Rühle: Theater für die Republik 1917-1933. Im Spiegel der Kritik. Frankfurt a.M. 1967, S. 1036 6 Berthold Viertel: Ferdinand Bruckners Drama "Die Rassen". In dsb.:Die Überwindung des Übermenschen. Exilschriften. Studienausgabe Bd.1. Hg.v.Konstantin Kaiser und Peter Roessler in Zusammenarbeit mit Siglinde Bolbecher. Wien 1989, S. 144. 7 Ebd., S. 146 8 Vgl. seine Aufsätze "Ein freies Österreich", "Nestroy und Österreich" und "Patriotismus und Kultur". Abgedruckt in Peter Roessler, Konstantin Kaiser (Hrsg.): Dramaturgie der Demokratie. Theaterkonzeptionen des österreichischen Exils. Wien 1989, S. 71-74 u. S. 85-95 9 Brief an den Pen-Club, Nizza 4.Juni 1934. (Ferdinand Bruckner Archiv der Akademie der Künste Berlin) . 10 Vgl. Gerhard Scheit: Am Beispiel von Brecht und Bronnen: Krise und Kritik des modernen Dramas. Wien 1988, S. 226ff Faschismus Widerstand geleistet haben und sich nach der Befreiung durch die amerikanische Armee ihrer Hoffnung auf eine gerechte Verurteilung zur Sicherung ihrer materiellen und ideellen Bediirfnisse beraubt sehen. Es ist bemerkenswert, wie früh Ferdinand Bruckner die Entwicklung der kommenden Jahre erkannt hat: die glimpfliche Behandlung der NS-Verbrecher durch die Justiz, die Ausgrenzung der Antifaschisten von Bereichen, in denen sie gesellschaftlich wirksam hätten werden können, ihre Brandmarkung als Kommunisten, bei gleichzeitiger Bagatellisierung des Faschismus durch die Vertreter der Industrie. Man kann den Versuch unternehmen, die vage Ortsangabe, "eine Stadt in Europa, wenige Monate nach der Befreiung", mit den italienischen Verhältnissen in Verbindung zu bringen, man kann jedoch darin auch die Bemühung des Dramatikers um die Raffung des Stoffes zum Modell erkennen. Weit mehr als in "Denn seine Zeit ist kurz" gelang es Bruckner, die Vertreter des Widerstands nicht als abstrakte Träger von Ideen zu gestalten, sondern sie mit der konkreten Lebensrealität zu vermitteln. Indem er diese Personen in ihren Behauptungsversuchen gegenüber den Normen einer Justiz zeigt, die ihre Ziele mißachtet, und ihren Existenzkampf vor Augen führt, vermag er auch verzweifeltes Ringen, Leid, Haß, ja sogar Züge der Deformation uund Entstellung bei denjenigen darzustellen, die die Humanität gegen das Verbrechen zu behaupten haben. Damit stellt der Dramatiker sie nicht außerhalb des Geschehens und macht die Brutalität der Verhältnisse umso deutlicher. In einer ungeheuren Erschrockenheit vor uns selbst müssen wir in unsere zivilisierte Gegenwart hineinfragen wie in die frühesten Jahrtausende zurück: was ist der Mensch? ° Diese Frage stellte Ferdinand Bruckner 1934 an einem Wendepunkt seiner Arbeit. Überblicken wir den Weg, den Bruckner durchmessen hat, so können wir die Veränderungen innerhalb seines Werkes angesichts der Erfahrung von Vertreibung und Exil erkennen. Überspitzt ließe sich formulieren, daß sich die zitierte Frage nach dem Menschen - in Gegenwart und Historie - auf Bruckners Werk von den Anfängen bis ins Exil anwenden ließe. Tatsächlich hatte Bruckner (was seine wiederholten Rückgriffe auf die früheren Stücke erklärt) in diesem Punkt an den Impulsen des Dramas der Moderne festgehalten, der jedoch das Subjekt in ihren Untiefen beständig verloren ging. Die Methoden, mit denen er die Frage zu klären suchte, hatten sich deshalb erheblich zu wandeln, was wiederum den Gehalt der Frage von Grund auf umwälzte. Das Ringen um die dramatische Gestaltung der Entfremdung des Menschen führte dabei zu Versuchen von unterschiedlicher Qualität. Sicher hat ein bewußteres Verhältnis zum Epischen, wie es Bertolt Brecht entwickelte, weitgespanntere Möglichkeiten eröffnet. Dessen spezifischer Einsatz des epischen Subjekts ist eine Alternative zu Passagen, in denen die Ereignisse überwiegend beredet werden oder die Figuren zu Sprachrohren von Ideen geraten; zudem ermöglicht das Epische in paradoxer Weise eine Wiedergewinnung des Dramatischen. Die Wahl eines historischen Stoffes brachte für Bruckner gegenüber den ‘“Zeitstücken’ keine neue Qualität und damit auch keine Lösung der ästhetisch-dramaturgischen Schwierigkeiten, wie es Brecht mit seinen großen Exildramen gelang. Denn zwar ist auch zwischen Bruckners Geschichtsdramen der Weimarer Republik und der Exilperiode ein Bruch zu erkennen, wenn man beispielsweise "Elisabeth von England" mit den beiden "Simon Boliyar"Dramen (1945) vergleicht, in denen der Dramatiker kühn den Blick auf die venezuelische Freiheitsbewegung lenkt. Bei aller Konzentration auf die geschichtlichen Prozesse und die durchzuhaltende Spannung, gerät die Figur des Simon Bolivar mehr und mehr zum abstrakten Sprachrohr der Freiheit, was noch durch die Analogiebildung zur Gegenwart verstärkt wird. Die inhaltlichen und formalen Lösungen, die Ferdinand Bruckner mit seiner bedeutenden antifaschistischen Dramatik fand, tragen - in ihrem Gelingen und in ihrem Scheitern - allesamt Spuren eines Ringens um die dramatische Gestaltung des Individuums in Verhältnissen von äußerster Barbarei, mit der Perspektive der Befreiung von ihnen. Besonders dort, wo es um die direkte Darstellung von Kämpfen um die Identität des Menschen ging, finden sich ebenso Stellen von höchster Dramatik wie ein Umkippen in rhetorische Proklamation.