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Fortsetzung von S. 16 fahrung (...) - etwa durch "Bindungen’ oder durch Übernahme von Idealen - ist unter Musils Voraussetzungen gleichbedeutend mit dem Verlust der menschlichen Würde. Für die Helden seiner späteren Werke wird die Sinnlosigkeit eines ohne Schutz durch das Allgemeine gelebten Lebens zum Preis, den sie für ihre aus dem Wissen um die Paradoxie des Möglichen gewonnene Haltung zu entrichten haben. Doch ist die menschliche Würde nicht ein Ideal, oder zumindest ein Allgemeines? Hier beginnt die Problematik von Erhards textimmanentem Verfahren, die vielleicht charakteristisch ist für die Musil-Forschung: die Abwesenheit des Allgemeinen wird als Allgemeines begriffen - seine Entstehung und seine ideologischen, sozial- und lebensgeschichtlichen Bedingungen bleiben aber ausgeblendet - und damit der Widerspruch, der Musils Werk bewegt: der Widerspruch zwischen der satirischen und ironischen Exaktheit seiner Charaktersisierungskunst und der Mystik des Positivismus. Man versucht gewissermaBen ein Resultat aus dem Roman zu gewinnen - ohne zu verstehen, daß ein Roman ein Werden ohne Resultat ist. Und gerade diese Bestimmung hat Musils Riesentorso mit der Gattung Roman noch gemeinsam. Erhard stellt sich darum auch nicht die Frage, inwieweit Musil bei der Arbeit am Roman die Erfahrung des Faschismus reflektiert hat. Gerhard Scheit Claus Erhart: Der ästhetische Mensch bei Robert Musil. Vom Ästhetizismus zur schöpferischen Moral. Innsbruck 1991. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft; Germanistische Reihe Bd.43) 334 S., 6S 564,Pannonische Novelle Der im Otto Müller Verlag, Salzburg, neu aufgelegte, längst vergriffene Roman von Johannes Weidenheim ist von brennender Aktualität - er richtet sich gegen den leichtfertigen Gebrauch von oberflächlichen historischen Resumées. Johannes Weidenheim: Pannonische Novelle. Lebenslauf der Katharina D. Salzburg: Otto Müller 1991. 118 S., öS 178,-. Siglinde Bolbecher 17 Die Lebensgeschichte der Katalin (ungarisch), Katica (serbisch) oder Kata, wie sie von ihren Eltern und von den anderen Schwaben genannt wurde, getauft aber eigentlich auf den stolzen Namen Katharina, beginnt im damals ungarischen Teil der k. und k. Monarchie wenige Jahre vor der Jahrhundertwende und findet ihren Abschluß in einem Flüchtlingslager nördlich der Donau in Wien. Kathi gehört zu jenen 500.000 Volksdeutschen, die Ende 1944 engültig von der großen Geschichte eingeholt wurden, den geographischen und kulturellen Ort ihrer Heimat verloren haben und in die weite Welt der Anonymität zerstreut wurden. Gut 200 Jahre, bevor die Lebensgeschichte Katharinas die Fragen nach Sinn, Schuld und Leid neu aufrollte, waren ihre Vorfahren aus der Pfalz, aus dem Elsaß, aus Schwaben als Kolonisten und Wehrbauern in die sumpfige, aber fruchtbare Ebene zwischen Donau und Theiß gesiedelt. Landlose Bauern, die noch dazu oft der ungelittenen reformierten Kirche anhingen. So lernten die Siedler Toleranz zwischen dem Augsburger Bekenntnis, dem Calvinismus und dem Katholizismus zu üben und entwickelten eine Begierde des ’JochZählens’ - des Abrundens von Grundbesitz durch Ehe und Erbschaft. Auch Katharina wurde, lange bevor sie zu ihrer weiblichen Aufgabe, der Produktion von Kindern, herangereift war, von ihrem Vater durch Heiratsvertrag in die Generationsfolge eingefädelt und dem Sohn eines reichen SallaschBauern versprochen. Für die Ehe blieb durch den Ersten Weltkrieg eine knapp bemessene Zeit, Zeit genug für die Geburt von zwei Söhnen. Dann findet sich Katharina als junge Witwe wieder, mit 70 Joch Grund und der neuen Staatsbürgerschaft, der des Königreichs der Serben und Kroaten. (Die nicht die letzte sein sollte). Johannes Weidenheim, im damals ungarischen, heute jugoslawischen Baka Topola geboren, sucht den schmalen Grat der Wahrheit, auf dem das Schicksal der Donauschwaben mit Würde verstanden werden kann - jenseits aller Idyllisierung eines sagenhaften multikulturellen Pannonien, aber in entschiedener Stellung gegen jede dämonisierende Kollektivschuld-Zuweisung, die in jedem ’Volksdeutschen’ einen SSler oder eine hitlerische Heldenmutter sieht. | Es geht Weidenheim um die Schnittpunkte zwischen Leben und Geschichte. Um jenen fruchtbaren, arbeitsamen FluB im sozialen und gesellschaftlichen Leben eines Neben- und Miteinander von Ungarn, Kroaten, Juden, ’Zigeunern’ und Deutschen, ihren Sprachen und Religionen, in deren vielfaltigem Gebrauch ein Keim des Widerstandes gesteckt haben mag. Die hysterischen Angstmauern eines Grenzlandbewußtseins fehlen. Möglich wurde das auch durch das ’gottergebene Vertrauen’ an das rationale Fortschreiten in den spannungsgeladenen Zentren Budapest, Wien und Belgrad. Diese äußere Untertänigkeit nach oben bildete die Grundlage des Ausgleichs der Gegensätze im Alltäglichen. Dieses Vertrauen wurde in eine Zeit hinein aufrechterhalten, in der in den Zentren längst der Irrationalismus und die politischen. Visionen von Ausgrenzung und Vernichtung die Oberhand gewonnen hatten. Diesem Ansturm war das einfache Zusammenleben nicht gewachsen; zurück blieb der einzelne Mensch mit seinen Toten. Bei Johannes Weidenheim wird deutlich, warum die tragende Figur eines ’Heinatvertriebenen-Epos’ nur eine Frau sein kann. Am Ende ihres Lebens träumt Katharina in ihrer Baracke, daß sie schon als junge Kathi wohl rebellischer, kecker hätte sein miissen, so wie sie es im Alter geworden ist. Und hatte sie nicht schon vor Jahren gewuBt - als sie das schéne Ahnenbuch von dem "Deutschländer" in die Hand bekam -, "daß der Deutschlander alles das vergessen hatte, was die Donauschwaben nach zweihundert gemeinsamen Jahren mit den Slawen und den Magyaren gemeinsam hatten, in der Kleidung, in der Küche, in der Sprache, und daß er alles das betonte und unterstrich, was die Donauschwaben von ihren zweihundertjährigen Nachbarn unterschied, trennte und diesen überlegen machte - als Deutsche. (...) Aber konnte jemand etwas vergessen, das er gar nicht kannte?"