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6 Fortsetzung von Seite 5 10.4. 1936 zusammen mit Otto Spranger und Anton Forcher Begründung des “Österreichischen Arbeiter-Schriftstellerverbandes” (dem u.a. Rudolf Felmayer, Alois Roßmanith, Willy Miksch, Josef Pechacek, Benedikt Fantner, Karl Gugerell angehörten), der nach dem März 1938 behördlich aufgelöst wurde. Gegensatz zwischen Kulturaktivitäten V.M.s und der von Guido Zernatto als Generalsekretär der “Vaterländischen Front” angestrebten Zentralisierung und Formierung im Kulturwerk “Neues Leben”. Ab dem Juli-Abkommen 1936 zwischen Hitler und Schuschnigg verstärktes Einsickern von Nationalsozialisten in 6ffentliche Stellen. V.M. wird von seiner eigenen neuen Sekretärin im NS-Auftrag bespitzelt. Bei seiner Verhaftung am 12. März 1938 sind seine Auslandskontakte der Gestapo im Detail bekannt. Bis 31.3. 1938 Polizeigefängnis Roßauerlände, 1.4. 1938 mit erstem Transport ins KZ Dachau; 1940 im KZ Flossenbiirg — Freundschaft mit Karl Röder (KPD-Gefangener seit 1933) und Emil Felden (Pastor aus Bremen). Wieder in Dachau dem Arbeitskommando Buchbinderei zugewiesen; Herstellung von “Pickbüchern” mit Zeitungsausschnitten zur Information der Mithäftlinge. 7. Juli 1944 nach Wien entlassen; in Spitalspflege, um der Musterung zu entgehen; dann untergetaucht. Verbindung zur Befreiungsorganisation O3. Nach der Befreiung im April 1945 Eintritt in die KPÖ; Mitglied des Zentralkomitees, 1957 ausgeschieden; 1966 aus der Partei ausgetreten. April 1945 - 7.12. 1949 Wiener Stadtrat für Kultur und Volksbildung. Organisation der Ausstellung “Niemals vergessen”, 1946; Bemühungen um die Rückholung von Emigranten und die Würdigung ihrer Leistungen; Unterstützung der Begründung des “Instituts für Wissenschaft und Kunst”. Verhindert den Abriß der Modeschule Hetzendorf. Erkämpft die Einführung eines “Kulturgroschen”, um damit öffentliche und private Kultureinrichtungen zu fördern. Bis 1956 Gemeinderat der KPÖ für Gesundheit, Wohnen und Kultur. Seit 1950 Mitherausgeber (zusammen mit Bruno Frei und Ernst Fischer) und Redakteur der Zeitschrift “Tagebuch” (später “Wiener Tagebuch”). Gerhard Scheit Die Stimme der Literatur Nachforschungen über das Werk des Grazer Germanisten Friedrich Achberger Die Arbeiten Friedrich Achbergers sind der Nachforschungen wert. Friedrich Achberger kam 1984 bei einem Autounfall ums Leben, er war 36 Jahre alt. Er hat Aufsätze hinterlassen, die nur zum Teil, aber an prominenter Stelle, publiziert wurden, und das Fragment einer großen Studie. Es handelt sich insgesamt wohl um eines der wichtigsten Projekte zur Geschichte der österreichischen Literatur. Seine Arbeiten haben — mit wenigen Ausnahmen - ein großes Thema: die österreichische Literatur von 1918 bis 1933 bzw. 38, die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit. Nun ist es nichts Besonderes, daß ein Germanist sich auf eine Periode konzentriert und darüber eine Reihe von Spezialstudien erarbeitet. Das Besondere an jedem Aufsatz Achbergers aber liegt in dem Versuch, das Ganze in den Blick zu bekommen. Sein Interesse ist es, sich der Totalität der Epoche anzunähern: nicht nur die einzelnen literarischen Werke in ihrem Zusammenhang zu betrachten, sondern ebenso die Literatur im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Heute, da der Begriff der Totalität mit dem des Totalitarismus identifiziert zu werden pflegt, und dieser mit allem, was der Marktwirtschaft nicht konform scheint, heute wäre dieser Anspruch mit Sicherheit dem Vorwurf der Antiquiertheit ausgesetzt. Einem sehr aggressiven Vorwurf, die Kalten Krieger rüsten siegestrunken zur katalaunischen Schlacht. So lese ich die Arbeiten Friedrich Achbergers auch als Provokation des Zeitgeistes - vor allem dort, wo dieser Geist akademisch wird. Während heute ein Zusammenhang zwischen den Werken einer Epoche oft nur durch die Umschlagdeckel von Sammelbänden sich herstellt, worin Spezialisten für je einen Autor, eine Autorin, sich versammeln zu einer Epochendarstellung - die Epoche buchstäblich zum Sammelbegriff wird —, versuchte Achberger die Werke aus der Perspektive der zentralen gesellschaftlichen Fragen einer Epoche zu bestimmen und miteinander zu konfrontieren. Dabei steckte er die Epoche zwischen den Weltkriegen nicht als ein Forschungsfeld ab, um es gegenüber anderen Germanisten zu begrenzen und zu verteidigen. 1918 und 1938 sind also keineswegs Grenzsteine, die man der Zeitgeschichte entliehen hat aufgrund der mißlichen Tatsache, daß im 20.Jahrhundert keine aparte literarische oder ästhetische Periodisierung mehr möglich scheint. Ebensowenig ist es Achbergers Interesse, Literaturwissenschaft auf Literatursoziologie zu reduzieren. Seine wichtigsten Erkenntnissse verdanken sich dem Wissen, daß gesellschaftliche und ästhetische Prozesse zusammenhängen und doch nicht ineinander aufgehen - daß die ästhetische Struktur der Werke sich nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, wie sie mit den Daten 1918 und 1938 markiert sind, erschließt, sie aber keineswegs mit den sozialen Strukturen - etwa im Sinne Lucien Goldmanns - identisch wäre. In der Einleitung der großen Studie heißt es darüber: In ihren Entwürfen, Gegenentwürfen und Reaktionen sind alle diese Texte untrennbar mit dem geschichtlichen Moment der Zwischenkriegszeit verknüpft, sei es nun explizit wie in der ’Tagesliteratur’ oder implizit in der Geste der Abgrenzung von der Gegenwart. Zu dieser Literatur gehören damit auch Werke, die die Epoche nicht ihematisieren, sondern die epochale Erfahrung (Geschichtskatastrophe, Modernisierung, Subjektzerfall) in der Werkstruktur selbst reflektieren, und zwar im doppelten Sinn: indem sie sie abbilden und durcharbeiten. Hierher gehören Musils Entwurf der ’Eigenschaftslosigkeit’, Canettis Studie der Monomanie und das Verschwinden des Menschen in der Zitathülse bei Kraus. Auf dieser Ebene entziehen sich die literarischen Texte durchaus der Tagesaktualität, ohne freilich ihre Epochenzugehörigkeit zu verleugnen, womit unsere Lektüre zu rechnen haben wird