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Viktor Matejka an Willy Verkauf-Verlon Wien, 11.1. 1992 Lieber Willy, .. Der Rummel um meinen Neunzigsten, den freilich nicht ich veranstaltet habe, hat mich sehr hergenommen, und daher komme ich erst jetzt dazu, Dir fiir Deinen absolut originellen Hahn zu danken, und weil ich schon beim Danken bin, gestern bekam ich das neue Ziehharmonika-Heft, da überraschte mich Dein Offener Brief, und da hast Du mich wieder erfreut. Wofür ich nur wieder danken kann. Natürlich wäre es meine schönste Freude, wenn es wieder zu einem Gespräch käme. ... Ich bin in einem Jahrgang, der bedauern muß, die allermeisten Freunde längst verloren zu haben. Zum Glück bist Du noch da, immer wieder kommt mir in den Sinn, wie Du mit Blaukopf bald nach Eurer Heimkehr aus Israel ins Rathaus gekommen bist. Die politische Landschaft, sie ist nur global anzuschauen, ist seither nicht besser geworden. Es gibt sogar genug Indizien für eine Verschlechterung. Und das Hin und Her in Osterreich erinnert mich an ein gutes Stück von Ödön von Horvath, das ,,Hin und Her“ heißt. Noch besser würde es Tour retour heißen müssen, weil die österreichische Rückfälligkeit nicht aufhört. Daß trotzdem weiter gewurschtelt wird, daran ist halt die Geographie schuld. Ich grüße Dich und Deine Frau herzlich Stella Rotenberg wurde für ihr Buch „Scherben sind endlicher Hort“ vom österreichischen Bundesminister für Unterricht und Kunst Dr. Rudolf Scholten auf Vorschlag einer unabhängigen Jury eine Buchprämie von öS 20.000,- zuerkannt. Stella Rotenberg kommt im Mai wieder nach Wien und wird am 12. Mai im Institut für Wissenschaft und Kunst und am 21. Maiim Literaturhaus Wien lesen. Siglinde Bolbecher Situation humaine konkret Über Willy Verkauf-Verlon Die Idee, die man sich von seinem Leben macht, ist fast identisch mit der Idee, die man sich vom Schicksal der Welt macht. Der Selbstretusche kann man nicht ganz entgehen. Man erträgt sich schwer, so wie man ist. Mit diesen Worten endet W. V.-V.s Autobiographie „Situationen“ (Wien 1983). Es geht um eine Idee des Lebens, in der die vielen gelebten Leben und Identitäten W. V.-V.s ein Zentrum finden können. Im „Schicksal der Welt“ muß die Freiheit Raum und Zeit gewinnen, nicht nur angesichts der menschlichen Tragödien, sondern auch gegen den instrumentellen Gebrauch der Machbarkeit von Geschichte. Denn daß die Menschen für ihre Geschichte verantwortlich sind, ist die eine Seite. Vom Unterdrücktsein, Ausgeliefertsein, der Ohnmacht und Furcht her ist es die Suche nach der Durchschaubarkeit, den Grenzen dieser Macht und nach dem Engagement, das trifft und verändert. Vor mir liegen einige mir zugängliche Publikationen von W. V.-V.: die „AutoCollage“ von 1975, Ausstellungskataloge, die Dada-Monographie(1957), das neu erschienene „Montage-Resonanzen“, schließlich der Lyrikband „Tanzend auf einem Bein“. Es ist, als ob die Vor- und Zeitgeschichte, die großen Weltprobleme sich vor mir ausbreiteten und zugleich wohltuend die Legenden der eigenen Generation demontierten, nämlich erstmals in dieser oder jener Frage rebelliert zu haben: die Auseinandersetzung mit dem Age Atomique, den schrecklichen Szenarien eines 3. Weltkrieges, die linke Kritik am Sowjetsystem als Sozialismus ohne Freiheit, die Absage an einen unkritischen Fortschrittsbegriff. Als er 1933 seine Eltern von der Notwendigkeit einer Emigration überzeugte, war er nicht nur als junger Sozialist über den Charakter des Nationalsozialismus marxistisch orientiert, sondern hatte auch die Erfahrung, wie ihm, dem jüdischen Kind, die „Jarmulke“ (das Käppchen) in der 10 Uhr-Pause vom Kopf gerissen und zum allgemeinen Gespött in der Klasse herumgeworfen worden war. Was den wenig religiösen Willy veranlaßte, sie ab nun mit Stolz zu tragen. In Palästina waren es zunächst neben der „Parnassa“ (dem Lebensunterhalt) die Enttäuschung über den erbitterten Kampf um Brot und Arbeit zwischen jüdischen und arabischen Palästinensern und das Scheitern der Synthese von Zionismus und Sozialismus, die ihn zur Verbindung mit der verbotenen KP Palästinas (der Araber und Juden angehörten) veranlaßten. Was ihm und seiner ersten Frau Hanna Lipschiz eine Verurteilung wegen Hochverrats eintrug, Gefängnis und Arbeitslager. Die Zeit des arabischen Aufstandes von 1936 - 1939, in der die kompakten Probleme des Landes mit Terror und Gegenterror der extremen Zionisten ausgetragen wurden, wurde W. V.-V, zur existentiellen Erfahrung, selbst für den Frieden zu kämpfen. Ein Medium, die Kriegsspirale zu durchbrechen, Probleme rational und engagiert zu thematisieren, war die Sprache, das Buch. So knüpfte der kaum 20jährige Kontakte zur Redaktion der literarischen Zeitschrift „Das Wort“ (Moskau) und war als deren Korrespondent tätig. Mit seiner Frau eröffnete er in einem Hauseingang in Tel Aviv eine Verkaufsbude für antiquarische Bücher. Im „Dror“ (Freiheit) wurde importierte antifaschistische Literatur aus Prag und Paris, zumeist Schriften deutschsprachiger Emigrationsverlage, angeboten. Nach der Haftentlassung setzte er diese Tätigkeit als Verleger, Buchhändler und Schreibender fort. Mit der ‚Heimholung’ Österreichs ins Deutsche Reich gewinnt der Ort der Kindheit und die kritische Auseinandersetzung mit Herkunft und Heimat für den Exilanten zentrale Bedeutung. Der Zusammenschluß für den Frieden ist seinem Charakter nach international, vielsprachig, grenzenlos. Politische und soziale Freiheit verortet sich ihm im bewußten Kampf um ein anderes, neues Österreich. Gemeinsam mit Arnold Zweig, Martin Buber baut er die „V-Liga“