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hundertmal gebeugt und verleugnet, angepaßt haben sie sich, assimiliert, jawohl, gedemütigt, aber sie reden jiddisch, immerhin reden sie noch ihre Muttersprache. Fred Wander zeigt uns in seinem Roman nicht das Marseille der prominenten Exilanten, nicht die Welt jener Flüchtlinge, die mit Visas und Affidavits ausgestattet die großen Schiffe besteigen. Sein Buch handelt nicht von den „großen Tragödien“ der Emigration, seine Schicksale sind keine Quellen für biographische Handbücher. Wander berichtet von kleinen Leuten, Handwerkern, arbeitslosen Schwätzern, von dem athletischen Preisringer Joschko aus der Leopoldstadt, einem zynischen Prediger und Hobby-Philosphen namens Sascha, einem Professor für Musik und seiner Frau, die sich in diesem Hotel das Leben nehmen werden, er berichtet von Geschichtenerzählern und selbsternannten Poeten, vom Eierhändler aus Kolomea, von einem Kürschner aus Krakau und vielen anderen. Sie sind nicht namenlos, heißen Jablonsky, Lederer, Friedländer, Dolezal, Karfunkel, Pollak, Cohn-Jannowitz, Trachtenberg und Stern, die meisten von ihnen sind in erster oder zweiter Generation dem Schtetl entflohen... Und jeder hat seine Geschichte zu erzählen, der eine vom Selbstmord des Vaters, der andere von Verhaftungen und Folter, wieder andere beschwören die alte Erinnerung, die Zeit der Kindheit, den alten jüdischen Glauben. Der Schatten von Auschwitz legt sich vom ersten Kapitel an über alle diese Episoden, Geschichten und Anekdoten. Auschwitz wird im Verlauf des Romans immer deutlicher die konsequente Folge dieses Eingeschlossenseins. Viele Gäste dieses Hotels werden dorthin kommen, oder sie werden am Transport erschossen, bei der Arbeit erdrückt usw. Auch die heitersten Momente sind begrenzt durch die historische Ausweglosigkeit. Ja, einer will sich und den anderen sogar einreden, dieses Vertriebensein sei notwendig: „Ich bin nicht gläubig, wie ihr wißt, sagte ein dritter, aber wenn es einen Allmächtigen gibt, tut er gut daran, uns von Zeit zu Zeit aufzuscheuchen. Wer zu lange an einem Ort sitzt, setzt Schimmel an!“ Aber ein anderer sagt: „Es wird schon stimmen, wir werden umkommen, wir krepieren schon jetzt.“ Die Übermacht der Ereignisse nach der Besetzung Marseilles durch die Deutschen im November 1942, der Abtransport der Juden ins Konzentrationslager, ließ den Erzähler nicht zur Ruhe des einfachen chronologischen Berichts finden. Er kann seine weitere Erinnerung nicht bezähmen. Immer wieder verweist der Autor auf das spätere Schicksal einzelner Figuren, beharrt auf der Erinnerung an ihren Tod. Der Roman gibt aber auch unauffällig Auskunft über einen gut zwanzigjährigen jungen österreichischen Juden, der durch einen Zufall in den Kosmos dieses Hotels gelangt. Ein bleiches, naives, neugieriges Bürscherl, ein Simplex Simplicissimus aus Wien, der politisch zu unerfahren ist, um etwas zu begreifen, zu unbeholfen, um aus seiner Not eine Chance herauszutreiben, der gerne an Katja, die er zu lieben glaubt, herankommen möchte, dann aber in den Armen von Lily, der Frau seines Freundes, landet, die er vielleicht, womöglich, auch liebt. Staunend steht der Zwanzigjährige bei den Booten am Hafen, hört allerlei Gespräche von irgendwelchen ominösen 17 Gewehren. Erst sehr, sehr spät, kapiert er ein bißchen, was rösistance heißt... Fred Wander führt uns mit seinem Erzähler keinen Helden, keinen großen Charakter vor. Aber auch für einen Antihelden reicht es nicht so recht aus. Denn dieser Erzähler ist so skizzenhaft, so undeutlich und schemenhaft. Seine Geschichte, seine Herkunft werden nicht berichtet. Der Leser erhält erst nach und nach eine indirekte, vage Vorstellung von dieser Figur. Erst in der Spiegelung durch die Begegnungen mit Anderen bekommt sie Kontur. Das ist begreiflich, denn der Autor stellt das Hotel in den Mittelpunkt seines Romans; die Seele dieses Hotels, das sind alle darin wohnenden Menschen, ihre Begebenheiten und Geschichten, ihre Schicksale. Ihr scheuer Chronist steht staunend am Rande der Geschehnisse. Ihm liegt mehr an den Freunden, Bekannten, den Gästen des Hotels, als an sich selbst. Und da ist noch die Rede von Katja Jablonsky, die sich dem Widerstand anÜber Fred Wanders KZ-Erzählung „Der siebente Brunnen“ schrieb Christa Wolf: Wander hat das Problem des Erzählens, des Redens überhaupt unter solchen Umstinden zum Motiv seines Buches gemacht. (...) Das ist zeitgemäßes Erzählen, unbeirrt von Modernismus, aber auch weit entfernt von rationalistischen Fabelkonstruktionen. (...) Verkehrte Welt, hier wird sie geradegeriickt: Immer sind es die Opfer, die etwas iiber ihre Henker wissen; nie ist es umgekehrt. (...) Man glaubt, über den Rand der Erde gestoßen und in den beklemmenden Bann eines fremden Planeten geraten zu sein. (...) Sehen lernen, das Gedächtnis anstrengen, seinen Verlust nicht zulassen — wenn irgend etwas, so ist dies eine Botschaft dieses Buches ... Vortragsreihe „Antifaschistische Literatur und Exilliteratur‘“, Institut für Wissenschaft und Kunst, 1090 Wien, Bergg.17., Sommersemester 1992 Drei Jahre nach dem Bedenkjahr 1988 stellt sich die Frage: Hat sich am Umgang mit der Literatur des Exils in Österreich etwas geändert? Ist das Problem überhaupt noch aktuell? Welche Initiativen und Versuche wurden unternommen, welche Studien sind im Gange? Wo sind die weißen Flecken auf der Landkarte? Wäre ein Zusammenwirken der zersplitterten ,Einzelkimpfer’ nicht doch möglich? Dienstag, 17. März: Konstantin Kaiser: Unerledigt abgehakt? Die österreichische Exilliteratur heute. Dienstag, 31. März: Siglinde Bolbecher: Der Faden der Ariadne. Überlegungen zu einem Österreichischen Symposium „Frauen im Exil“. Dienstag, 12. Mai: Stella Rotenberg (Leeds): Fragile Türme. Lesung. Dienstag, 26. Mai: Manfred Altner (Dresden): Hermynia Zur Mühlen. Dienstag, 16. Juni: Harry Zohn (Boston, USA): Eine neue Buchreihe im Peter Lang-Verlag. Harry Zohn und Konstantin Kaiser lesen in verteilten Rollen das Gespräch zwischen Grillparzer und Nestroy in Alfred Faraus „Schatten sind des Lebens Güter“. Alle Vorträge beginnen um 18 Uhr 30.