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te tae dessen Geheimnisse eindringen ließ. Vor Jahren schon hat Leo Kofler vorgeschlagen, Lukäcs’ Studie über die Bürokratie im Kapitalismus von 1940 „Volkstribun oder Bürokrat“ als taktisch verdeckte - ich würde sagen: innerlich verdrängte - Stalinismus-Kritik zu lesen. So ist es auch keine bloße Tücke, wenn der Herausgeber des jüngst erschienenen Stenogramms einer geschlossenen Parteiversammlung von 1936 Lukäcs’ Anklagereden mit Begriffen aus dessen eigenen Werken des Moskauer Exils zu durchleuchten vermag.” Man muß den Begriff des Totalitären nicht mit ihr teilen, um Hannah Arendt auf der Suche nach den subjektiven Voraussetzungen stalinistischer Politik folgen zu können: sie spricht von der Erfahrung der Verlassenheit. „An der Wirklichkeit, die keiner mehr verläßlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist. Das einzige, was in der Verlassenheit als scheinbar unantastbar sicher verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tautologie des Satzes: zweimal zwei ist vier. (...) Dies Zwangsfolgern ist der Extremismus, der allem ideologischen Denken eignet und an dem gemessen freies und kontrolliertes Denken an mangelnder Radikalität zu leiden scheint. Die ’Radikalität’ totalitärer Ideologien ist nur der Extremismus des Ärgsten und hat mit echter Radikalität nichts zu tun. Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so daß jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlaß ist.“ ® Auf die Literatur aber war Verlaß nicht natürlich auf die derroten Romantik und des ärarischen Realismus. Die große Literatur jedoch bestätigte noch die Wirklichkeit, darum auch die verzweifelte Forderung nach einem echten Realismus. So konnten Fischer und Lukäcs wohl in der Literatur der Vergangenheit Wirklichkeit sozusagen rekonstruieren und in ihrer Interpretation etwas reiten vor dem Extremismus des Ärgsten, dem sie in ihren Handlungen huldigten. 23 Doch hier unterschieden sich auch Fischer und Lukäcs sehr bald: während dieser eben den Zwang der Verlassenheit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, suchte jener die Bestätigung dieser Wirklichkeit in der Literatur: die Einsichten Ernst Fischers über Franz Kafka sind ohne die Erfahrungen des Moskauer Exils nicht denkbar, das spätere Engagement für diesen Autor, das ihn schließlich in unversöhnlichen Konflikt zur DDR-Germanistik brachte, hat hier seinen Ursprung. Ernst Fischer hatte seinen Kafka-Essay, ehe er 1962 erschien, im Inneren lange schon geschrieben: „Kafka hat den äußeren und inneren Zustand des schuldlos aus einem Kollektiv Verdrängten, der jede Schuld auf sich zu nehmen bereit ist, wenn er nur zurückkehren und dadurch gesellschaftlich existieren darf, mit beunruhigender Präzision gestaltet. K. erfährt zur Genüge, wie schändlich das bürokratische System des Schlosses ist, weiß aber auch, welcher Verlassenheit der einzelne ausgeliefert ist, wenn er nicht ‚dazugehört’ und will somit um jeden Preis dazugehören. Lieber die schlimmste Gemeinschaft als keine! (...) Das ist die Haltung desK. vor den Toren des Schlosses, eine verzweifelte Haltung, die künftiges Verhängnis ankündigt.“” Anmerkungen 1 Karl-Markus Gauß, Ludwig Hartinger: Nachwort zu Ernst Fischer: Von Grillparzer zu Kafka — Von Canetti zu Fried. Essays zur österreichischen Literatur. Werkausgabe. Frankfurt am Main 1991. S.421 2 Retten was zu retten ist. Spiegel Nr.4/92, S.162 £f 3Karl-Markus Gauß, Ludwig Hartinger: Nachwort zu Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Werkausgabe. Frankfurt/M. 1987. 5.483 4Siehe hierzu: Barry Mc Loughlin/Walter Szevera: Posthum rehabilitiert. Hg. vom ZK d. KPÖ. Wien 1991. - Es handelt sich um die Auswertung von 1990 vom ZK der KPdSU der KPO übergebenem Material über 150 Fälle österr. Exilierter, die von KPdSU-Instanzen in den letzten Jahren ‚rehabilitiert’ wurden. (Nur eine Minderzahl hatte die Verfolgung überlebt). Im Nachwort wird aus Briefen Ernst Fischers (Pseudonym: Peter Wieden) an die Kaderabteilung der Komintern zitiert, in denen F. die Ausweisung von ehemaligen Schutzbündlern aus derSU fordert. Die Unterlagen finden sich im sonst gut verschlossenen Archiv der KPÖ. Das (wenngleich unzulänglich dokumentierte) Faktum wirkt beklemmend. Aber der Eindruck, die KPÖ nütze noch die ‚Entstalinisierung’ zur Bekämpfung ihrer alten ‚reformkommunistischen’ Gegner, muß entstehen, zumal andere Funktionäre der KPÖ in dieser Broschüre nicht in Zusammenhang mit der Verfolgung gebracht werden. 5 Fischer, Von Grillparzer zu Kafka — Von Canetti zu Fried, S.12 6 Ebd. S.55 7 Vgl. Georg Lukäcs, Johannes R.Becher, Friedrich Wolf u.a.: Die Säuberung. Moskau 1933: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung. Hg.v.Reinhard Müller. Reinbek 1991. S.38 ff 8Hannah Arendt: Elemente und Urspriinge totaler Herrschaft. München 1986. S.729 9 Fischer, Von Grillparzer zu Kafka - Von Canetti zu Fried, S.324