Am 8. April 1950 starb in einem New
Yorker Armenshospital der österreichi¬
sche Schriftsteller Albert Ehrenstein an
den Folgen eines Schlaganfalls. Ein
"großer Dichter" sei er gewesen, rief ihm
einige Tage später bei der Trauerfeier
Kurt Pinthus nach, nur hätten es viele
nicht gewußt, "noch jetzt wissen es
wenige".
Und daran hat sich in den letzten
vierzig Jahren, die seither vergangen sind,
wenig geändert: Ehrenstein blieb ein Tip
für Kenner, die, wie Arno Schmidt oder
Karl Otten, vergeblich die Trommel für
den radikalen Wortkünstler der Bitternis
und des Grauens rührten. Keinen Unbe¬
kannten also gilt es vorzustellen, eher
schon einen Unverlangten wieder ins Ge¬
dächtnis zu rufen.
Der Klaus Boer Verlag versucht es mit
einer Werkausgabe. Sieben Bände mit
Briefen sollen laut Plan der Herausgebe¬
rin Hanni Mittelmann in Zusammenar¬
beit mit dem Ehrenstein Archiv in Jerusa¬
lem entstehen. Ein löbliches Unterneh¬
men, ohne Zweifel, ob allerdings mit der
Nobilitierung die wünschenswerte Reso¬
nanz einhergeht, bleibt abzuwarten. Ab¬
zuwarten deshalb, weil der Eröffnungs¬
band, der das wahrhaft Neue dieser
Edition bietet, die Briefe nämlich,
beinahe unter Ausschluß der Öffentlich¬
keit erschienen ist. Vergeblich suchte man
in den Buchhandlungen nach Prospekten
für ein Vorhaben, das pro Band so viel
kostet wie die neunbändige Robert Musil
Ausgabe im ganzen. Stieß hier der Verlag
an seine Grenzen, oder dachte man von
vornherein an das akademische Milieu,
das sich ohnehin der Institutsbibliotheken
bedient. .
Doch wie auch immer, Ehrensteins
Briefe liegen vor. Über 900 hat die Her¬
ausgeberin zusammengetragen, die 316
ausgewählt, die ihr in "private(r), literari¬
sche(r) und zeitgeschichtliche(e) Bezie¬
hung: am wichtigsten erschienen: Die
"äußeren und inneren Entwicklungen"
sollen sichtbar werden, sollen sich am
Ende zu einer "Biographie in Briefen" ver¬
binden. Das Leben in einem gleichzeitig
Jahrhundert tut sich darin auf, reich an
Widersprüchen und arm an Erfüllung,
‚eingebettet zwischen hoher Erwartung
und ruinöser Realität.
Ermunterung als auch Kritik mußte
der noch nicht 19jährige Ehrenstein ein¬
stecken, als er Arthur Schnitzler 1905 die
ersten Arbeiten vorgelegt hatte. Trotz
wiederholter persönlicher Differenzen
teilte er dem Dichter des großbürgerli¬
chen jungen Wien unumwunden seine
Anliegen mit: "Bin ich auch leider lange
nicht so weit, eine Befürwortung irgend
einer meiner Arbeiten um ihrer selbst
willen erbitten zu können, hoffe ich
dennoch dereinst halbwegs Erspießliches
zu verfassen. Nicht meine Sachen,
sondern mich möchte ich gerne an eine
respektable hiesige Zeitung empfohlen
sehen." Die Neue Freie Presse, das erklär¬
termaßen angestrebte Ziel, zeigte dem
Ottakringer Nachwuchsliteraten jedoch
die kalte Schulter, und, nicht genug der
Zurückweisung, im Juli 1909 bekam er
überdies seine historische Dissertation
"zur gänzlichen Umarbeitung" retour¬
niert.
Vergeblich hatte Ehrenstein in den Re¬
daktionsbüros des Großfeuilletons anti¬
chambriert, als ihm Karl Kraus im
Februar 1910 die Tür zur Fackel öffnete
und damit dem Schützling Schnitzlers auf
die Beine half. Nicht nur daß er Ehren¬
steins Texte in seinen legendären Veran¬
staltungen vortrug, vermittelte er auch
dessen düstere Meistererzählung "Tu¬
butsch" an den Fackel-Verlag Jahoda &
Siegel und half ihm finanzielle bis über
den Kriegsbeginn hinaus aus den ärgsten
Nöten. Gleichwohl und geradezu undank¬
bar berichtete Ehrenstein im Juli 1910 in
einem Brief an Schnitzler, daß er mit
Kraus "bereits sehr schlecht stehe, weil wir
beide ... recht unverträglich sind", was ihn
indes nicht abhielt, im April des folgenden
Jahres mit Schnitzler zu brechen.
Bis zu Beginn der 20er Jahre entfaltete
er schier unglaubliche Aktivitäten: Abge¬
sehen von einem halbjährigen Intermezzo
im Wiener Kriegspressequartier, eilte er
Krieger" in Weimar zu kurzzeitigen Lek¬
toratsstellen bei Kurt Wolff und S.
Fischer, wirkte in Alfred: Adlers "Verein
für Individualpsychologie" in Zürich und
gründete in Wien den "Genossenschafts¬
verlag. Außerdem erschienen eine
Unzahl von Artikeln, zudem mehr als
zehn Bücher, darunter das Pamphlet Karl
Kraus (1920), der Höhepunkt der Ausein¬
andersetzung mit dem ehemaligen
Mentor, der ihm in Anschluß an den
Ersten Weltkrieg "lyrischen Pazifismus"
vorgeworfen hatte.
Doch mit den Jahren der Rastlosigkeit
verging auch die Zeit der Hoffnung. Kläg¬
lich scheiterte die Intention des revolutio¬
nären, auf Menschheitsverbrüderung
ausgerichteten Expressionismus am zyni¬
schen Kalkül der Machtpolitik rechter
wie linker Provenienz. In den 20er Jahren
geriet Ehrenstein in eine Identitäts- und
Schaffenskrise, die immer auch mit dem
bloßen Überleben zusammenhing und
aus der er auch durch seine chinesischen
Nachdichtungen nicht mehr herausfand.
Bereits vor der Machtergreifung der
Nazis in Deutschland und der Errichtung
des Christlichen Ständestaates in Öster¬
reich, lebte Ehrenstein in der Schweiz,
von wo aus er 1934/35 die Sowjetunion
bereiste und sich für aus Deutschland ver¬
triebene Schriftsteller einsetzte. Ehe er
im Juli 1941 nach New York ausreisen
konnte, bekam er noch die regressive Im¬
migrationspolitik der Eidgenossen zu
spüren, vor der ihn Hermann Hesse wie¬
derholt beschützte. "Du kannst Dir und
Anderen nur helfen, wenn Du kein Isola¬
tionszentrum bleibst", schrieb er aus den
USA an den Bruder Carl nach London;
er selbst wurde ein solches, und vielleicht
gehört gerade deshalb die Korrespon¬
denz jener Jahre zu den ergreifendsten
Dokumenten dieses Bandes, einer Brief¬
sammlung, die selbst ein Stück Literatur
geworden ist, in der ein ganzes Leben
Revue passiert, und die zugleich, die vor
allem wieder zum Werk hinführen sollte.
Albert Ehrenstein: Werke. Band 1: Briefe.
Hrsg. von Hanni Mittelmann. Klaus Boer
Verlag München 1989. 535 Seiten, geb.,
DM 98,¬