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maßen Konturen gewinnen. In zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen der jüngeren Zeit finden sich Schilderungen Otto Tausigs als Materialien verwendet. Diejenigen, die ihn befragten, verdanken ihm wichtige Einsichten zum Exiltheater in Großbritannien, zum Werk Jura Soyfers, um das er sich als Schauspieler, Regisseur und erster Herausgeber verdient gemacht hat, zur Geschichte des Neuen Theaters in der Scala. Nun erhalten wir hier zu den bekannten Segmenten die umfassende persönliche Schilderung eines Lebens, in dem die Theaterarbeit bewußt zum Weltlauf in Beziehung gesetzt wird, und in dem gerade deshalb das Theater nicht als die Welt schlechthin genommen wird. Tausigs Lebensbericht, wertvoll bereits als anschauliche Schilderung eines Zeitzeugen, läßt uns zudem noch stärker begreifen, wie sehr diese Art Schauspielkunst mit dem wachen Erleben des Alltags verknüpft ist. In diesem Sinne äußert sich auch Lotte Loebinger in ihrem Lebensbericht: „Ich habe immer versucht, bei meinen Rollen nicht nur auf Äußeres zu achten, sondern mich in den Alltag der Frauen, die ich spielte, hineinzudenken. Vieles, was ich spielte und spiele, gehört zu meinem eigenen Leben.“ (S.142) Es bedurfte der Erfahrung von Exil und Widerstand, um die eigene Praxis in diesem Sinne zu begreifen und auszubauen. (Von hier aus machte es dann Sinn, die großen historischen Schriften und „Systeme“ der Schauspielkunst neu zu entdecken). Die im Exil entstandenen Erinnerungen erzählen uns deshalb so viel, da sich der berichtende Mensch eben nicht bloß als in der Welt der Kulissen agierend versteht. Alexander Granachs im amerikanischen Exil geschriebene Autobiographie „Da geht ein Mensch“ ist solch ein Zeugnis, es berichtet von der Kindheit im ostgalizischen Dorf, vom Leben der jüdischen, ruthenischen und polnischen Bevölkerung, vom Los des zehnjährigen Bäckerjungen in der Stadt, bis hin zu den schauspielerischen Anfängen, die in der „Sehnsuchtsrolle“ des Shylock gipfeln. Die Arbeit des Erinnerns macht hier deutlich, aus welchen Quellen Granachs Schauspielkunst schöpfte und ist zugleich ein Akt des Widerstehens gegen das Vergessen. Granachs Weg zum Schauspielberuf wird — bei allen Zufällen, und von diesen gab es nicht wenige - in seiner Notwendigkeit kenntlich. Dennoch beansprucht die Darstellung keineswegs ihre Attraktion aus der Prominenz des Berliner Staatstheaterschauspielers, sie könnte in ihrer Lebendigkeit, die an die Erzählungen Karl Emil Franzos’ oder Alexander SacherMasochs erinnert, auch für sich stehen. „Granachs Autobiographie ist ein Bildungsroman“, schrieb Berthold Viertel 1943, „und zwar der sonderbarste, den die deutsche Literatur besitzt - besitzen wird, wenn sie erst wieder eine wahrhaft deutsche Literatur sein wird.“ So gelangt das Genre der Schauspieler-Erinnerungen in veränderter Weise erneut zu jenen Möglichkeiten, die es einst verloren hatte. Anmerkungen 1 Vgl. Karoline Schulze-Kummerfeld: Mit 13 Jahren spielte ich die Iphigenie von Racine. In: Solch ein Volk nennt sich nun Künstler. Schauspielererinnerungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Rolf Kabel. Wien, Köln, Graz 1983, S.41£f; sowie Renate Möhrmann: Die Schauspielerin als literarische Fiktion. In: Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Hrsg. v. Renate Mohrmann. Frankfurt a. M. 1989, S.156 2 Johann Heinrich Friedrich Müller: Wie selten findet man doch denkende Schauspieler. In: Solch ein Volk...a.a.O., S.121 3 Vgl. Michael Töteberg: „Ich möchte hier den Vorhang des Schweigens herunterlassen.“ Über die Darstellung des Dritten Reiches in Schauspieler-Memoiren. Mit einem Exkurs über den Theaterkritiker Herbert Ihering. In: Im Rampenlicht der „dunklen Jahre“: Aufsätze zum Theater im „Dritten Reich“, Exilund Nachkrieg von Marta Mierendorff und Walter Wicclair. Hrsg. v. Helmut G.Asper. Berlin 1989, S.123-148. 4 Die Autobiographie Alexander Granachs (1890-1945) erschien englisch: There Goes an Actor. New York : Doubleday 1945. Deutsch: Da geht ein Mensch. Autobiographischer Roman. Stockholm: Neuer Verlag 1945. Vor der Wiederauflage im Piper Verlag 1990 erschien: Da geht ein Mensch. Lebensroman eines Schauspielers. München, Berlin: FA. Verlagsbuchhandlung. 1973. 5 Berthold Viertel: Alexander Granachs Autobiographie. Einführung eines ungedruckten Buches. In dsb.: Die Überwindung des Übermenschen. Exilschriften. (Studienausgabe Bd. 1). Hrsg. v. Konstantin Kaiser und Peter Roessler in Zusammenarbeit mit Siglinde Bolbecher. Wien 1989, S. 167. 17 radies zum Weltuntergang“. Besuch des Max-Reinhardt-Seminars. Wirkte als Schauspieler und Regisseur am Neuen Theater in der Scala, nach der erzwungenen Auflösung des Theaters 1956-60 Engagement an der Volksbühne Berlin/DDR. Da er in Wien kein Engagement bekommt, Theaterarbeit in Münster, Zürich, Hamburg. 1971-1983 Burgtheater. Engagement in der Friedensbewegung, Mitbegründer des „Gemeindehoftheaters“ (Fo-Theater). Alexander Granach (Jessaia Gronach, geb. 1890 in Werbowitz/Werbiwizi, gest. 1945 in New York). Aufgewachsen zuleben vom Ackerbau und einem kleinen Kramladen. 1905 Bäckerlehrling in Horodenka, kam mit einem Wandertheater nach Lemberg, erste Auftritte in jüdischen Vereinen. 1908 Berlin, lernte die deutsche Sprache. 1909 Schauspielschule Max-Reinhardts. 1910 Vertrag am Deutschen Theater, 1914-18 in der österreich-ungarischen Armee (konnte sich dem Militär zeitweilig durch Flucht entziehen), nach 1918 erfolgreiche Theaterarbeit in Wien, München und Berlin (u.a. Deutsches Theater, Staatstheater, Volksbühne). Emigrierte 1933 nach Österreich, Polen, in die Sowjetunion, die Schweiz und in die USA. Anfang der 40er Jahre gemeinsam mit Berthold Viertel Plan zur Gründung eines jüdischen Theaters in den USA, der jedoch nicht realisiert wurde.