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18 Eva-Maria Siegel London — Frankfurt am Main - Graz. Natürlich bin ich in London zum falschen Flughafen gefahren, nicht Heathrow, sondern Gatwick. We all over the world at first. Trotzdem komme ich mir vor wie eine Eurojetter — gibt es davon ein weibliche Form? Dabei seheich doch nur etwas von Nord- und Mitteleuropa. Und was heißt hier überhaupt sehen? Über dem Channel ist Nebel, über Belgien auch, und als ich nach längerer Wartezeit zum Rhein-Main-Flughafen weiterfliegen kann, ist es bereits dunkel. Die Kulisse aber ist sehr eindrucksvoll. Große Städte sollte man nur nachts überfliegen, dann hält sich der Mythos der funkelnden Metropole länger. Mein Hotelzimmer in Graz dagegen ist nahezu heimatlich ernüchternd. Schon der Flug in der Business Class nach Graz erweckte die widersprüchlichsten Gefühle, vor allen anderen das bereits in Cambridge vertraut gewordene: Du bist mal wieder im falschen Film. Eine Wiener Freundin wird später kommentieren: wie in einer Herrentoilette. Aber Graz ist wirklich eine gemütliche Stadt, was meint: mit Gemüt. Die Dame, die die Frühstücksoberhoheit im Hotel führt, ist ein Typus’, altösterreichisch, fesch, mit StandesbewuBtsein. Ich beginne beim einsamen Frühstück die letzten Tage nach ”Typen’ zu durchforschen. Vielleicht der orthodoxe Jude gestern auf dem Londonder Flughafen, der mich unbedingt mit nach Jerusalem nehmen wollte, nach zehnminütigen Gespräch: Was sagt man dazu? Frau kommt aus Ostberlin - mit Betonung auf der ersten Silbe — ist verheiratet, hat zwei Kinder. That’s pity. Er war wohl recht einsam, der alte Mann mit dem langen grauen Bart, dem runden schwarzen Hut und den merkwürdigen Bändern am Hosengürtel unter der nachlässigen Weste, und er wollte es nicht verbergen. Er sprach ein gutes Deutsch. Keine Frage, wie kommt ein deutschsprachiger Jude nach Israel ... Dartiber hatte ich gerne mit ihm gesprochen, aber es hätte auf ihn wohl geschäftsmäßig gewirkt. Und das nicht zu Unrecht, denn ich bin ’in Sachen Exil’ unterwegs. Konstantin Kaiser, der ’freischwebende gute Geist der österreichischen Exilliteratur’, begrüßt mich am nächsten Tag: “Imma noch does gleicha Käppl wie im letztön Jarr!” und tippt an meine schwarze Gavrochemütze. Seine Wange ist warm. Der Wind ist eisigim Vergleich zum britischen Inselklima. Der Raum im Meerscheinschlößl in der Mozartgasse — mei, wie das klingt! - fängt an zu summen. Die ersten Referenten beginnen ihren Kampf gegen das hallende Echo in dem altrosafarbenen Raum mit dem barocken Dekor und dem kalten grauen Marmorfußboden. Wir diskutieren unter anderem die Publikationsmöglichkeiten für einige Romane Hermynia Zur Mühlens, die bisher nur im Aufbau-Verlag der untergegangenen DDR erschienen waren. Die Bücher sind längst vergriffen. Verlagsvertreter sind nicht anwesend. StudentInnen auch kaum. Für ein Internationales Symposium “Literatur - Exil — Widerstand” gibt es in Österreich offenbar wenig öffentliches Interesse. Daraus folgt: das Symposium genießt alle Vorzüge eines intimen Kreises. Neben mir sitzt Stella Rotenberg, eine quicklebendige, etwa siebzigjährige österreichische Dame aus dem englischen Leeds. Als einer der Referenten, Primus-Heinz Kucher aus Klagenfurt, eine biographische Skizze ihres Lebens zeichnet und auf den Tod ihrer Eltern beim Transport nach Auschwitz zu sprechen kommt, atmet sie schwerer und stößt die kleine Handtasche, die ihre Hände mit fast weißen Fingerspitzen umklammern, wieder und wieder auf die Knie. Das Leiden und Wiedererleiden spannt ihren Körper. Die Thesen über den “Neigungswinkel ihrer Dichtung”, die Kucher mit wohltuend leiser Stimme vorträgt, sind prägnant und treffen sie mitten ins Herz. Ich liebe sie in diesem Augenblick für ihre Haltung. Als sie am Abend mit kleinen trippelnden Schritten an das Podium geht und ihre Gedichte liest, erkenne ich erst die Schönheit ihrer Sprache. Mit Lyrik und Prosa, geschrieben an wechselnden Orten in England in deutscher Sprache, versucht sie das "Unsagbare’ der Erfahrung Auschwitz in Worte zu fassen. In ihren Gedichten steht jedes Wort für sich in einem kalten Raum, jedes hat einen eigenen Glanz, auch wenn es das Funkeln einer ’modernen’ Sprache entbehrt. Bevor sie spricht, fragt sie mit unsicherer Stimme: “Können Sie mich verstehen?” Am nächsten Tag mit Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser nach Wien. Die Mozartkugeln, die ich für meine Kinder kaufe, mein persönlicher Beitrag zum Mozartjahr, werde ich später während meiner überstürzten Flucht aus dem Hotelzimmer in Bad Münstereifel im Schubfach liegen lassen. Der Nachtzug von Wien nach Bonn ist voll wie die Züge in den alten vertrauten DDR-Zeiten. Kein Platz im Liege- oder Schlafwagen, jedenfalls nicht für mich. Also Tasche hoch, sitzen, schreiben, lesen, bisich so müde bin, daßich meine, auch rechtwinklig schlafen zu können. Der Morgen in Bonn sieht mich grau und unausgeschlafen. Vier Stunden muß ich in dem sonntagsvormittagsöden Städtchen warten, bis ein Zug nach Bad Münstereifel weiterfährt. Ein hübsches Örtchen, dieses Bonn, wirklich; es wundert mich nur, daß auf dem Bahnsteig Papier herumliegen darf. Hübscher Marktplatz, hübsche Geschäfte, hübsche Preise, wirklich. Von hier aus also werden wir regiert. Ich rette mich zu meinem Walkman. Wenn ich hier schon sehen muß, will ich wenigstens nichts hören. Auch Bad Münstereifel ist eine niedliche Puppenstadt - mit Gäßchen, Türmchen und einem alten Stadtwall; mit Messerchen und Gäbelchen in den Schaufenstern und Männlein und Weiblein traut im Arm miteinander auf der Kurpromenade, die gleichzeitig eine Einkaufsstraße ist. Hier im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung über die Lebensbedingungen von “Frauen im Exil zwischen 1933 und 1945" zu sprechen, ist eine Dissonanz. Solche Dissonanzen erscheinen mir notwendig, sie müssen einem Publikum fühlbar gemacht werden können. Haben wir denn ein Publikum? Nach den ersten zwei Stunden des Workshops haben wir jedenfalls einen Eklat. Annemarie Stoltenberg, eine Journalistin des Norddeutschen Rundfunks und gelegentlich Literaturkritike