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20 am historischen Stand der Frauenemanzipation ihrer Zeit, den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts zu messen. Die These, daß die Emigrantinnen, die in der Regel die Existenz ihrer Familien - oft genug ihrer schreibenden Männer -zu sichern hatten, Vorreiterinnen einer weiblichen Emanzipation gewesen wären, stimme eben nicht mit den Realitäten überein. Die Flucht ins praktische Leben als eine spezifisch weibliche Art der Konfliktbewältigung? Resignation war wohl einfach ein Luxusartikel, den man sich als Emigrantin mit Familie eben nicht hat leisten können. Die Exilforschung hat solche Fragen bisher ausgeklammert, die Emigration erscheint als Männerwelt. Beate Schmeichel-Falkenberg, eine der beiden Organisatorinnen des Workshops, hatte bereits zu Beginn auf den blinden Fleck hingewiesen. Als ich endlich am letzten Vormittag meinen Vortrag über die Reporterin Maria Leitner halte, verfluche ich mein Redekonzept, das sehr theoretisch und werkanalytisch angelegt ist. Aber es gelingt. Zwei Stunden später breche ich dann zusammen - nach einem präzise recherchierten und nüchtern beschreibenden Vortrag von Volker Kühn über Kabarettistinnen in den Vernichtungslagern, die die SS wie ihre Mithäftlinge buchstäblich vor den Verbrennungsöfen mit brillanten kabarettistischen Programmen unterhalten haben. Bereits am Abend vorher hat das gezeigte Video über die Schauspielerinnen Camilla und Steffi Spira bei mir ein Explosivgemisch aus Trauer, Wut und enttäuschter Hoffnung hervorgezerrt, das sich nun seinen Ausgang sucht. Hatte es nicht doch Ansätze zu einem antifaschistischen Weltbild in der DDR gegeben, die wieder zugeschüttet wurden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Ich fliege zurück nach London. Ich habe gerade in Cambridge das Fest der Frauen verpaßt, die das zehnjährige Jubiläum der Aufnahme eines weiblichen Fellows am John’s College feierlich begehen. Und ich habe den Protestmarsch verpaßt, den Frauen der Universität und der Stadt gemeinsam organisiert haben, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Ich fühle mich fast zu Hause. November 1991 Grete Weil Zeichnung von Willi Pechtl Am 9. März 1992 las Grete Weil für Amnesty International im ORF-Landesstudio Tirol in Innsbruck aus “Meine Schwester Antigone”. Die heute 86jährige beeindruckte 70 Zuhörer in einem zweistündigen Vortrag. Willi Pechtls Porträtskizze entstand während des Vortrags. Grete Weil, geboren 1906 in Rottach-Egern (Bayern), emigrierte 1935 in die Niederlande, wo sie ab 1943 im Untergrund überlebte. Ihr erster Mann wurde 1941 im KZ Mauthausen (Oberösterreich) ermordet. 1947 kehrte sie in die BRD zurück und lebt seit 1973 als freischaffende Schriftstellerin in Frankfurt am Main. Bekannt wurde sie durch ihre Bücher “Die Witwe von Ephesus” (1951), “Tramhalte Beethovenstraat” (1963), “Happy, sagte der Onkel” (1968). In dem Roman “Meine Schwester Antigone” (Frankfurt: Fischer-TB 1989) beschreibt Weil ihr Leben als alte Frau, gekennzeichnet durch zunehmende Vereinsamung und einen Zustand des “Noch”. Sie wohnt in einem Hochhaus in Frankfurt, spaziert durch häßliche Straßen und meidet Parks, seit ihr Hund verschwunden ist. Christine, die Tochter einer Freundin, führt sie mit ihren Fragen in die Vergangenheit zurück. Die mythische Antigone ist ihr Gefährtin, Gegenstand eines Buches, das sie nie zu Ende schreiben wird. Die Erzählerin vergleicht sich mit Antigones Schwester Ismene, die es nicht wagte, dem Gebot des Kreon zu widerhandeln und mit Antigone, den vor den Toren Thebens gefallenen Bruder Polyneikes zu begraben. Lange hatte Weil das Schicksal der Antigone selbstverständlich hingenommen. Erst als sie selbst mit Mord und Vernichtung konfrontiert wurde, verwandelte sich diese Gestalt, “wurde größer, gewichtiger, schillernder” (S.10). Grete Weil aber sagte “nicht nein - Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit, Antigone hat sie souverän genutzt — ‚ich sagte ja. Ja, ich verlasse Deutschland, ja, ich bin keine Deutsche mehr ... ja, ich nähe mir auf meine Kleider den gelben Stern ... ja, ich nehme einen fremden Namen an ... ja, ich schieße den Hauptsturmführer nicht nieder. So rette ich mein Leben, so schaffe ich mich selber ab.” (S.88). Untrennbar mit den Erinnerungen verbunden sind die Schuldgefühle der Überlebenden. Voll “Neid” denkt Weilan Antigone, “die einen Toten begraben, nicht einen Lebenden retten mußte. Sie war allein. Alleinsein - ungeheuerste Stärke.” (S.65) Ismene, Antigone — Grete Weil zeigt, durch welche “Eiseskälte” sie gegangen ist, “gestellt vor Entscheidungen, die, wie immer sie ausfielen, mich schuldig machten.” (S.68) Maria Ruetz