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Deutschlands Gedächtnis Eine stattliche Bibliothek, gleichwohl keine Fundgrube: Die autobiographischen Schriften, die in der ersten Nachkriegszeit in den deutschen Westzonen erschienen sind, widersprechen nur auf den ersten Blick der geläufigen Auffassung, daß gleich nach dem Krieg in Deutschland vornehmlich die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit, fast nirgends aber deren Aufarbeitung gefördert worden sei. Die meisten dieser Schriften sind längst vergessen; bibliographiert und wiederaufgelegt wurden allenfalls die literarisch anspruchsvollen, die anderen Autobiographien verschwanden schon in den fünfziger Jahren aus den Regalen der deutschen Buchläden: Helmut Peitsch hat ausgegraben, was in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre publiziert worden ist mit dem Anspruch, die Erinnerung an das Erlebte, das Unerhörte wach zu halten, und er hat sich dabei nicht um das Kriterium der Literarizität gekümmert, sondern bemüht, das gesamte einschlägige Material möglichst vollständig zu erfassen, auch und gerade, was später als nicht tradierungswürdig nicht aufgehoben worden ist. Das Ergebnis dieser Arbeit, um es vorwegzunehmen: Von einer ’Ausklammerung’ des Nationalsozialismus in der westdeutschen Autobiographik kann keine Rede sein; der Begriff ’Verleugnung’ aber, den Alexander und Margarete Mitscherlich als Gegenbegriff zu “erinnern, wiederholen, durcharbeiten” vorgeschlagen haben, der Begriff ’Verleugnung? trifft dennoch am genauesten den Prozeß, der sich in den deutschen Westzonen nach 1945 entwickelt hat. Die Berichte, die Peitsch zusammengetragen hat und in dieser Habilitationsschrift mit akribischer Sorgfalt auswertet, haben die unterschiedlichsten Zielsetzungen verfolgt und die unterschiedlichsten Funktionen erfüllt; nur nicht ihre Hauptaufgabe, nämlich den Prozeß der ’Verleugnung’ von allem Anfang aufzuhalten. Im Gegenteil, sie haben diesen Prozeß eröffnet und überdies nahezu ausnahmslos noch forciert. Das gilt für die Apologien, beispielsweise Friedrich Meineckes “Die deutsche Katastrophe” oder Gottfried Benns “Doppelleben”, das gilt nicht anders für die allermeisten Formen des Schreibens über das eigene Leben unterm Hakenkreuz. - Schon von daher wirkt die hier vorgenommene Gliederung des Materials: Erlebnisberichte, Tagebücher, Briefe, Memoiren, Autobiographien, Apologien, eine Gliederung, die dem von Peitsch zunächst bevorzugten Sammelbegriff ’Autobiographik’ zuwiderläuft, nicht recht überzeugend. Überzeugend dafür die Interpretation des Materials. Indem Peitsch textimmanente Analysen immer verknüpft mit Beobachtungen zur Rolle der Vermittlungsinstanzen, der Verlagsanstalten vor allem und der Kritik, kann er nachweisen, wie das Erinnern mehr und mehr abgeleitet wird und abgleitet in die Begründung neuer Ansprüche; wobei ein breites Spektrum zu sehen ist, angefangen vom Versuch, Führungsansprüche zu legitimieren, bis hin zu diversen Bemühungen, unter dem Vorzeichen des Moralischen alles Politische zu verunglimpfen. Nirgends Verallgemeinerungen. Was diese Darstellung auszeichnet, ist die Beharrlichkeit, mit der Peitsch jeden Bericht, jedes Tagebuch gesondert durchbespricht, hartnäckig auf der Suche, weniger nach Bekräftigungen von Hypothesen, mehr nach Unerwartetem. Dem aber begegnet er, einigermaßen überraschend, selten in den untergegangenen Erlebnisberichten der christlichen Geistlichen, der sozialdemokratischen und kommunistischen Funktionäre, der jüdischen Opfer des NS-Regimes; dem begegnet er am häufigsten in den scheinbar gut bekannten Darstellungen der Berufsschriftsteller, in Ernst Wiecherts “Totenwald”, Luise Rinsers “Gefängnistagebuch”, Günther Weisenborns “Memorial”, in den beiden Erlebnisberichten aus dem Exil, die Hans Habe und Alfred Döblin veröffentlicht haben, schließlich auch in Ernst Jüngers “Strahlungen”. Was Peitsch den allermeisten Darstellungen kritisch vorhält: daß sie zu Reisen verführen in die private Autonomie, das könnte man, gerade in der Autobiographik, gelegentlich wohl auch milder beurteilen. An seinem Resümee allerdings, daß in den autobiographischen Schriften der Nachkriegszeit insgesamt die Abgrenzung vom Faschismus prekär ausgefallen ist, daran ist bestimmt nicht mehr zu rütteln. Johann Holzner 21 Helmut Peitsch: “Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit”. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949. Berlin: Edition Sigma Bohn 1990. (Sigma — Medienwissenschaft, Band 5). “Rohmaterial vom Steinbruch der Geschichte” Unter diesem Titel begrüßte die Zeit (Hamburg) 1988 Elfriede Schmidts Interview-Buch “1938 ... und was dann. (Erschienen im Osterreichischen Kulturverlag, Thaur/Tirol). Nun ist in der Ariadne Press, Riverside (Kalifornien), eine von Peter J. Lyth besorgte englische Ubersetzung herausgekommen, gegenüber der deutschen Version vermehrt durch ein Interview mit dem früheren US-Vizepräsidenten Walter Mondale, dessen Meinung über den Bundespräsidenten Kurt Waldheim ziemlich klar ist: Clearly he was a nazi, he clearly was heavily involved in those areas where Jews were killed and rounded up. (...) I saw all the documents in the U.N. I read almost all of them. They sure thought he was. This is not 1944 and I was not there in 1944, But with that record I think he should not be President of Austria! (...) He should step down. Da im Bundespräsidentenwahlkampf 1992 alles mögliche diskutiert wurde, nur nicht die Entwertung des Amtes durch seinen Inhaber, wirkt Mondales Äußerung als kleine Erinnerungsstütze. Schmidts Buch war ein christlicher Beitrag zum Bedenkjahr 1988 zu verstehen, und die im Anhang abgedruckten Erklärungen der österreichischen Bischöfe 1938 und des Zweiten Vatikanischen Exils, sowie Briefe des Linzer Vizebürgermeisters Carl Hödl (der den amerikanischen Justizminister, der Waldheim attackierte, denen verglich, “die in einem Schauprozeß Jesus Christus zum Tode verurteilen ließen”) und Elfriede Schmidts an Hödl belegen den christlichen Bezugsrahmen Schmidts. In Gesprächen mit Unbekannten und Prominenten, mit NS-Mitläufern und Widerstandskämpfern, Exilierten und nach 1945 wieder Zurückgekehrten aller politischen Richtungen entsteht das Bild eines “Anderen Österreich”, von dem Erika Weinzierl im Nachwort spricht. Die Spannnung zwischen