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22 damals und jetzt bleibt stets präsent; alle Gesprächspartner Schmidts sind sich einig, daß ein lässiges Abtun der NSZeit ein gefährlicher Irrtum wäre. Am interessantesten sind die Gespräche mit Zeitzeugen, die 1938 in Graz waren. Die Praktiken der Verfolgung in diesem Bundesland sind noch wenig dokumentiert; die vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes herausgegebene Buchreihe “Verfolgung und Widerstand 1934 — 1945" ist in diesen Teil Osterreichs noch nicht vorgedrungen. Auch in Kärnten blieben die Archive bis heute verschlossen. Kärntner Politikern, die von Slowenien die Aufklärung aller ”Partisanen-Verbrechen" fordern und zugleich die Aufklärung der Naziverbrechen in Kärnten verhindern, ist das Wort Scham offenbar kein deutsches. Elfriede Schmidt dagegen ist dieses Wort nicht unbekannt. Sie liebt ihr Land und schämt sich daher auch für das, was in diesem Land noch oder schon wieder möglich ist. Und sie sucht zugleich den Kontakt zu Menschen, die unsere Achtung verdienen und beweisen, daß einst und jetzt immer auch Besseres möglich war und ist. K.K. Elfriede Schmidt: 1938... and the Consequences. Riverside (California): Ariadne Press 1992. 381 S. Büchner im “Dritten Reich” “Büchner gehörte zu den ersten und auch heute noch wenigen deutschen Dichtern, die im Leben und im Werk die politische Emigration am weitestgehenden verkörpern. Sein literarisches Erbe ist deshalb notwendig”, schrieb Anna Seghers in ihrer Besprechung einer Aufführung des “Woyzeck” im mexikanischen Exil (in: Freies Deutschland, Mexiko, H.5, S.29). Mitglieder des Heinrich-Heine-Klubs hatten im Juli 1944 Büchners Drama auf die Bühne gestellt. Während in Mexiko und anderen Zufluchtsländern Exilgruppen versuchten, praktisch und theoretisch eine humanistische Theatertradition zu bewahren, waren in Hitler-Deutschland bereits diverse Aufführungen der Klassiker auf allerhöchsten Befehl verboten. “Der Führer wünscht, daß Schillers Schauspiel "Wilhelm Tell’ nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird”, hieß es in einer streng vertraulichen, von Martin Bormann unterzeichneten Anweisung vom 3.6.1941. Und das trotz aller Anstrengungen und jahrelanger Bemühungen der NS-Literaturtheoretiker, die deutsche Literaturgeschichte in ihr Korsett zu zwingen. Auch Büchner blieb nicht verschont. Nachlesen kann man die Elaborate der versuchten “Faschisierung” (Lukäcs) Büchners jetzt in dem Band Büchner im “Dritten Reich”. Mystifikation — Gleichschaltung - Exil. Eine Dokumentation. Herausgegeben und eingeleitet von Dietmar Goltschnigg. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1990. Wobei diese Dokumentation weit mehr beinhaltet als der Titel auf den ersten Blick verspricht. Der Band versammelt nämlich nicht nur die literaturtheoretischen Produkte aus der vélkisch-nationalen und nationalsozialistischen Giftktiche, sondern dokumentiert auch deren Ingredienzen aus der geistes- und stammesgeschichtlichen Tradition seit der Jahrhundertwende. Auch ein Emil Staiger scheute in seiner “Festrede zur Büchnerfeier im Schauspielhaus Zürich” (1937) vor blut- und bodenrünstigen Affinitäten nicht zurück. Zwei Dokumente aus der Nachkriegszeit stehen für die Kontinuitäten der willfährig in den Dienst der NS-Ideologie getretenen oder von ihr leicht zu vereinnahmenden Germanistik. Wenn mit 1945 irgendwo keine Stunde Null geschlagen hat, dann in der Germanistik. Es nimmt nicht wunder, daß neben der von Staiger vertretenen Werkimmanenz die “biologisch-rassenkundliche Geistesgeschichte” eines Ludwig Bittner auch noch nach 1945 als Grundlage für akademische Literaturbetrachtungen über Büchner dienen konnte. Natürlich präsentiert sich die etablierte Germanistik (eigentlich ein Pleonasmus) samt ihrem sympathisierenden Umfeld nicht einmal im Dritten Reich als Einheit, in all ihrer Diskongruenz weisen die vorliegenden Zeugnisse jedoch immer wiederkehrende Rezeptionskonstanten auf: — die Entpolitisierung Büchners; — die Leugnung des Revolutionären bei Büchner; — die teils romantisierende, teils nihilistischpessimistische Mythologisierung; — die Einordnung in eine dämonisierende oder existenzialistische Geistesgeschichte; — die Darstellung Büchners als natürlichen Dichters im Gegensatz zum “dekadenten, städtischen, intellektuellen, überzüchteten Zivilisationsliteratentum” des Jungen Deutschland; — die Stigmatisierung Büchners als “problematische Natur”. Trotz aller von der tausendjährigen Germanistik unternommener Anstrengungen, Georg Büchner zu enthistorisieren und zu entpolitisieren, klappte die Gleichschaltung Büchners nicht recht. Der führende NS-Theatertheoretiker Heinz Kindermann verschweigt seinen Namen, der “Stürmer” bekundet deutliche Ablehnung. Seine Dramen werden kaum gespielt, und eine der zahlreichen Verbotslisten verdammt auch den “Hessischen Landboten”. Die Dokumentation enthält schließlich auch Zeugnisse der Exilrezeption. Sie, als Kontrast gedacht, wirken aber eher verloren, da sie weder ins Umfeld der Exilpolitik und -kultur, noch in den Zusammenhang einer fortschrittlichen Beschäftigung mit Büchner gestellt sind. Während die Dokumentation germanistischer Texte Entwicklungslinien und innere Brüche aufzeigt, bleiben die Exiltexte auch im Buch im Exil. Dennoch wichtig und grundlegend die Ausführungen von Georg Lukäcs, der die Methode der faschistischen Umfälschung Büchners analysiert. Sämtliche Texte sind sorgfältig ediert und mit informativen Anmerkungen und Kommentaren versehen. Jedem Autor ist ein stichwortartiger Überblick über wissenschaftliche Karriere, den einflußreichen sogar eine Kurzcharakteristik beigefügt. Dietmar Goltschniggs Einleitung ist leider mehr begleitend-referierend als analysierend angelegt. Etliche Zitate dienen in erster Linie der Denunziation und werden nicht einer untersuchenden Betrachtung unterworfen. So verhilft die Einleitung zwar zu einer guten Zusammenschau über die einschlägige Büchner-Rezeption, vertieft aber nicht immer das Verständnis für irratio- und nationale Geschichtsschreibung. Wer Interesse an der Historie der Germanistik, des Irrationalismus und der Geistesgeschichte hat und wer etwas über das eigentliche Thema - nämlich die Büchner-Rezeption im “Dritten Reich” — wissen will, wird den Band sicher mit Gewinn studieren. Herbert Staud a