OCR
ed 9. Jahrgang Nr. 3 Oktober 1992 dS 20,MIT DER ZIEHHARMONIKA Zeitschrift der Theodor Kramer Gesellschaft Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe und fürs Bittre bin ich da; schlag, ihr Leute, nicht die Harfe, spiel die Ziehharmonika. Theodor Kramer Siglinde Bolbecher „Im Exil bin ich geworden, die ich bin“ Die fahrenden Jahre der Elisabeth Freundlich Hörsaal I der Wiener Universität 1983: Beim Symposion „Literatur und Macht“ spricht Elisabeth Freundlich über die drei großen Fluchtbewegungen aus Österreich in den 30er Jahren und über die kulturpolitischen Aktivitäten der exilierten SchriftstellerInnen, an denen sie maßgeblich beteiligt war. „Exil“,jahrzehntelang tabuisiert, löst hier im vollen Hörsaal keine Angst aus, im Gegenteil, manchen Autor mag der Titel der Veranstaltung dazu verführen, bereits sein Schreiben selbst als eine Art Exil zu verstehen. Dafür bieten Elisabeth Freundlichs Ausführungen wenig. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper spricht sie, nein, führt sie die Anwesenden in das Paris von 1938, zu jenem Vortragsabend von Franz Werfel, der als Auftakt zur Gründung der „Ligue de l’Autriche vivante“ (Liga des geistigen Österreich) von ihr mitorganisiert wurde. Die Liga schloß Künstler, SchriftstellerInnen und Intellektuelle - alles Ex-Autrichiens — zusammen, um in Frankreich auf das politische Unrecht, das Österreich geschehen war, hinzuweisen. Menschen zusammenschließen, wenn auch von unterschiedlichen politischen Anschauungen geprägt, um des Gemeinsamen willen, das über das Persönliche hinausgeht, ist die praktische Humanität des Exils, die E.F. verkündet. Die Spezifität dieses Zusammengehens schließt allerdings eine Nullpunkt-Programmatik aus, fordert kritisch Geschichte ein, und das mag wohl ein wesentlicher Grund dafür sein, daß sich das politische und intellektuelle Exil so verdächtig gemacht hat. Welche Schwierigkeiten und Anstrengungen damit verbunden waren, führt E,F. am Beispiel Werfel aus, der der Christlichen Ständestaat-Diktatur verbunden war und für dessen Lesung Spanienkämpfer Plakate, Eintrittskarten druckten und verteilten. Möglich war dies, weil E.F. durch ihre Tätigkeit in Hilfskomitees politischen Kredit bei den Spanienkämpfern besaß und sie überzeugte, daß die Liga ein Beitrag zum österreichischen Freiheitskampf sei. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich einige Artikel von Elisabeth Lanzer aus der Monatsschrift „Austro American Tribune“, einer der „interessantesten österreichischen Exil-Zeitschriften“ (Willy Verkauf-Verlon), die von 1943-47 in New York erschien und deren Kulturbeilage E.F. gestaltete. Für dieses „Feuilleton“ gewann sie die namhaftesten Autoren: Viertel, Broch, Brecht, Polgar, Ehrenstein, Anders, Ullmann, Bruckner... Wieviel organisatorisches Talent, literarisches Fingerspitzengefühl, Einfühlungsvermögen und Hartnäckigkeit hatte sie dafür aufgebracht, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß diese begabte Frau, die so viel Achtung und Vertrauen genoß, seit über 30 Jahren in Wien lebte. Nein, sie mußte wohl in Paris oder New York leben, sonst hätte sie größere Aufgaben hier vorgefunden. Denn erst nach 1983 gelang E.F. der literarische Durchbruch; konnte sie Verleger für ihre oft im Exil begonnnenen Romane finden. „sie selbst wäre eigentlich nicht darauf gekommen, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Ein Bekannter habe sie dazu motiviert, und schließlich habe sie selbst Gefallen an der Idee gefunden“, bemerkt die Herausgeberin Susanne Alge zum Entstehungsprozeß der nun vorliegenden Erinnerungen. Strenggenommen sind „Die fahrenden Jahre“ eine aus dem Erinnern herauskristallisierte strukturierte Lebensspur, die eng mit der Zeitgeschichte verbunden ist. Gleichzeitig entfalten sie INHALT Siglinde Bolbecher: „Im Exil bin ich geworden, die ich bin“ S.1 Elisabeth Freundlich: Paris, am Rande der Spanischen Republik S. 3 Erich Hackl: Verständigung über eine stumme Generation hinweg. Zum Tode von Theodor Waldinger S.6 Elsa Leichter: Mein Freund Theo S.9 Theodor Waldinger: Boston Massachusetts 1944. Aus der unveröffentlichten Autobiographie S.11 Harry Zohn: Vermenschlichen des Unsagbaren. Stella Rotenbergs Lyrik und Prosa S.13 Wendelin Schmidt-Dengler: „Nun ist er frei, aber auf eine andere Art...“ Die Briefe Jura Soyfers S.15 Rudolf Haller: Uber Willy VerkaufVerlon S.17 Konstantin Kaiser: Die „Zucht des Wortes“ und Josef Weinheber S.19 Hugo Pepper: Josef Luitpold Stern. Versuch einer Bibliographie S.21 Rezensionen zu „Fritz Jensen. Arzt an vielen Fronten“ von Eva Barilich (K.K., 5.8), „Leben mit österreichischer Literatur“ (K.K., S.13), „Plötzlich waren sie alle weg“ von Robert Streibel (Johannes Diethart, S.20) Brief von Helli Andis (S.24) Faksimile Austro American Tribune (S.4) Notizen: Die Fotografin Alisa Douer (Herbert Kuhner/K.K. S.5), Die Frau im Schtet’] (S.5), Aus einer Korrespondenz des Exils S.6, „Jura Soyfer und Theater“ (S.II), Rückspiegel (S.12), „Neuentdecktes von Jura Soyfer“ (S.15), Helga und Willy Verkauf-Verlon Preis 1992 (5.17), „Aus Joseph Luitpold’s Grabrede auf Theodor Kramer“ (S.21), Luitpold-Stern-Preis (S.24), Berichtigungen (S.24)