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Sie und viele andere bilden die Pfeiler der Brücke, die Elisabeth Freundlich über die Intoleranz, Enge, Leere und Isolation, die sie und ihr Mann Günther Anders in den Nachkriegsjahren erfahren hatten, in die Gegenwart schlägt. „ ‚Die Republik, die keiner wollte’ hatte wenig Vertrauen zu sich gehabt, und es hatte den Anschein, als könnte das geschrumpfte Land den Intellektuellen und Künstlern keine Möglichkeit zur Entfaltung bieten“, resümiert E.L. die 30er Jahre: Vertrauen als eine Kategorie, an der sich die Gegenwart zu messen hat. Folgen wir Elisabeth Freundlich auf ihre Wunderwiese der Kindheit in Paneveggio. Eine Wiese mit wilden Orchideen, die sie am Tag des Beginns des I. Weltkrieges entdeckt hatte — cin Paradies — zugleich ein verlorenes Paradies, beglückend und erschreckend in einem Anblick. Aber sie konnte es nicht wiederfinden, als sie es ihren Eltern zeigen wollte. Farbe, Aussehen und Größe der Blumen blieben ihr unvergeßlich. Nicht ums Erinnern, sondern um das Gedächtnis ist es ihr zu tun. Elisabeth Freundlich Paris, am Rande der Spanischen Republik Du warst so grenzenlos ausgehungert nach Filmen, nach gutem Theater, und wir gingen, wann immer wir in diesen kurzen Wochen Gelegenheit dazu hatten. Ich weiß noch, wie erstaunt ich darüber war, daß es dich in die „Comedie“ zog, und wie entzückt du von einer verstaubten Aufführung des „Cyrano“ warst. Wie du am Heimweg diese klingenden Verse zitiertest, bald französisch, bald deutsch. Da tauchte in dir eine Bildungswelt auf, die ich nicht vermutet hatte. Hatte ich doch die meine in diesen letzten wirren Jahren einfach weggeschoben, wollte nichts mehr von ihr wissen. Die Bücher, die Kunst, sie hatten die Dinge um nichts besser gemacht, so schien es mir. Als du meine Verwunderung bemerktest, hast du belustigt gesagt: „Aber dafür kämpfen wir doch, kleines Mädchen. Daß jeder Mensch zu essen hat, lesen und schreiben kann und etwas von dem genießen lernt, was uns die Dichter geben und was allen gehören soll.“ Und dann hattest du erzählt, mit welchem Eifer und welcher Hingabe die Soldaten an der Front zwischen den Kämpfen lesen und schreiben lernen. Eines Abends sind wir in einen Film gegangen. Es war ein russischer, „Le Depute de la Baltique“ hieß er. Ich weiß nicht, ob es ein guter oder ein schlechter Film war. Ich weiß nur, daß er während der Revolution spielte und zeigte, wie ein alter, weltfremder Gelehrter, der keine Ahnung von den Vorgängen hat, langsam für die Sache des Volkes gewonnen wird und schließlich mit der Menge geht, zu ihrem Sprecher wird. Die Vorgänge sind mir nicht mehr klar in Erinnerung, ich weiß nur, daß der Gelehrte und seine Frau sehr alt sind; ein Philemon- und Baucis- Paar steht vor uns. Sie haben ein ganzes, langes Leben miteinander verbracht, sie kennen jeder die Eigenschaften des anderen bis in die kleinsten Nuancen. Abends spielen sie zusammen vierhändig, um die Kälte und den Hunger zu vergessen, die auch über sie in diesen Tagen kamen. Ganz schwach ist ihr Anschlag, und sie können auch nicht richtig im Takt bleiben. Aber ihnen klingt es schön, denn viele Stunden gemeinsamen Musizierens tönen ihnen noch in den Ohren. Einer weiß vom anderen, was er braucht, ehe der Wunsch ausgesprochen. Sie sind schon recht gebrechlich und stützen und helfen einander. Wenn sie einander ansehen, dann sehen sie die Züge ihrer Jugend. Es mag ein mittelmäßiger Film gewesen sein, und vielleicht war er sentimental und rührselig. Warum er uns beide so packte, daß er uns einfach umwarf, weiß ich nicht. Es war wenige Tage vor deiner Abfahrt an die Front und unsere Nerven waren arg mitgenommen. Aber bis jetzt hatten wir uns beide so gut gehalten, hatten von der Zukunft gesprochen, hatten Pläne gemacht, als wäre es außer Zweifel, daß wir morgen unser gemeinsames Leben dort fortsetzen würden, wo wir es heute unterbrechen mußten. Aber dieser Film, die Gemeinschaft dieser zittrigen, alten Leute warf uns einfach um. Wir hatten nie an das Alter gedacht, es lag so fern, wir waren jung und gesund und da war der Kampf, den wir liebten und hundert Dinge, die das Leben schön und begehrenswert machten. Plötzlich sahen wir, daß es etwas gab, was wir nie erreichen würden, denn wie konnten die unserer Arbeit, unserem Kampf gestohlenen Stunden und Tage je zu einer munist denunziert und damit die geplante Aufführung am Burgtheater verhindert). 1953-78 Kulturkorrespondentin der Tageszeitung „Mannheimer Morgen“, in den 70er Jahren Mitarbeit beim ORF, Berichte von NS-Kriegsverbrecherprozessen für „Die Gemeinde“ (Zeitschrift der Jüdischen Kultusgemeinde Wiens), Beiträge für „Die Presse“ und verschiedene andere Zeitungen. Freundschaft mit Ernst Bloch und Hans Mayer. Seit 1978 ist sie nur mehr freie Schriftstellerin und lebt immer noch in Wien. Bücher von Elisabeth Freundlich Invasion Day. Erzählung. (Pseudonym: Elisabeth Lanzer). Überlingen: Werner Wulff 1948. 102 S. Der eherne Reiter. Historischer Roman. Wien, Hannover, Basel: Forum 1960. 386 S. (Neuausgabe: Frankfurt: Insel 1982). Sie wußten, was sie wollten. Lebensbilder bedeutender Frauen aus drei Jahrhunderten. Freiburg im Breisgau: Herder 1981. 143 S. (Herde:siicherei 893). Die Ermcicuns, einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernicatungspolitik in Polen 19391945. Wicn: Osterreichischer Bundesverlag 1986. Der Seelenvogel. Roman. Wien, Hamburg: Zsolnay 1986. 348 S. (Taschenbuchausgabe: Berlin: Ullstein 1988. Lizenzausgabe fiir die Buchgemeinschaft Donauland: Darmstadt, Wien 0.J.) Finstere Zeiten. Vier Erzählungen. Mit einem Nachwort von Werner Fuld. Mannheim: persona Verlag 1986. 203 S. Die fahrenden Jahre. Erinnerungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Susanne Alge. Salzburg: Otto Müller 1992. 191 S.