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14 Harry Zohn nennt, Stefan Zweig zitierend, als für ihn vorbildlich das Bestreben, „auch das Fremdeste zu verstehen, immer Völker und Zeiten, Gestalten und Werke nur in ihrem positiven, ihrem schöpferischen Sinne zu bewerten“ und so dem Ideal der Humanität zu dienen. Dieses Bekenntnis zur Humanität und zum Mittlertum zwischen Kulturen ist wohl allen Autoren des Bandes gemeinsam. Der Band, der durch biographische und bibliographische Hinweise im Anhang ergänzt ist, bietet eine Fülle von Anregungen und stellt eine wertvolle Ergänzung zu den bereits vorhandenen Publikationen zur österreichischen wissenschaftlichen Emigration (vor allem zu den von Friedrich Stadler herausgegebenen Bänden „Vertriebene Vernunft“ Iund II, erschienen 1987 bzw. 1988) dar. KK. Leben mit österreichischer Literatur. Begegnung mit aus Österreich stammenden amerikanischen Germanisten 1938/1988. Elf Erinnerungen. Hg. von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Wien: Zirkular — Sondernummer 20. April 1990. 143 S. Harry Zohn wurde am 21.11. 1923 in Wien geboren, emigrierte 1939 nach Großbritannien, 1940 in die USA. Seit 1951 Universitätslehrer an der Brandeis-University in Waltham (bei Boston, Massachussetts), seit 1967 Professor fiir deutsche Sprache und Literatur. Vizepräsident der Internationalen Arthur Schnitzler-Forschungsgesellschaft und Mitbegründer der Internationalen Stefan Zweig-Gesellschaft. Seit ihrer Gründung auch Mitglied der Theodor Kramer Gesellschaft. U.a. Herausgeber des „Liber Amicorum“ für Friderike Maria Zweig (1952) und Verfasser von „Österreichische Juden in der Literatur. Ein bio-bibliographisches Lexikon“ (1969), „Karl Kraus“ (1971) und „ ,..ich bin ein Sohn der deutschen Sprache nur...’ Jiidisches Erbe in der Osterreichischen Literatur“ (1986). aufforderte, „es“ niederzuschreiben. Stella Rotenbergs Hauptthemen sind die vertrauten der Verfolgung und Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Sie erinnert sich an das nächtliche Pochen an der Tür und an die Viehwaggons, die vom Aspangbahnhof mit ihrer Menschenfracht abfuhren. Ihre eigentliche dichterische Landschaft ist die Hölle von Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Bergen-Belsen. Als Gegengewicht und Fanal der Menschlichkeit führt sie den dänischen König Christian an, der den Davidstern getragen haben soll. In gedämpften Tönen und simplen, traditionellen metrischen Formen besingt sie die Unbesiegbarkeit des jüdischen Volkes: „Am Yisrael chai!“ Die Worte „Ich war nicht dabei./ Es ist alles vorbei./ Ich darf mich nicht beklagen“ gemahnen an Theodor Kramers „Die Wahrheit ist: Man hat mir nichts getan“. Stella Rotenbergs lapidare Lyrik zeugt von Überlebenwollen und Weitergebenwollen, von einem Bestreben, durch Aufzeigen und Aufzeichnen, durch Sagen, Denken und Vermenschlichen des Unsagbaren, Undenkbaren und Unmenschlichen gegen das Vergessen zu arbeiten. In einer Einleitung, die eine Art geistiger Biographie darstellt, beschreibt Primus-Heinz Kucher die Dichterin als „eine Seismographin von unbestechlichem und schr feinem Gespür“. Immer wieder bettet sie ihr früheres Leben und ihre ihr jäh geraubte jugendliche Entwicklung in die Zeitgeschichte ein. Mitunter „dekonstruiert“ sie deutsche Volkslieder und Bildungsgut auf ätzende Weise. Sosind z.B. die singenden Kinder im „Kinderlied aus Mauthausen“ nicht etwa die dort verendenden, sondern die von Vati und Mutti dazu ermutigten, Steine zu werfen und Schädel einzuschlagen, und die gepfefferte Parodie auf Heines „Zwei Ritter“ im Volkston (oder, besser gesagt, Gesindelton) ersetzt Crapülinski und Waschlapski durch die Juden Sam und Ham, die Polen Stan und Jan, und die Deutschen Hans und Franz. Ihr dichterisches Einfühlungsvermögen befähigt sie, die Stimme eines Dorfnarren, Hausierers oder Aussätzigen, einer Kindsmörderin und einer Kriegerbraut zu sein. „Wie der Magnet das Eisen anzieht, zieh ich an mich das Leid“, schreibt Stella Rotenberg. Eins ihrer Gedichte trägt den Brecht’schen Titel „Vom Gebundensein des Menschen an das Schicksal seines Nachbarn“, und immer wieder versucht sie, der von Jakob Wassermann benannten Trägheit des Herzens entgegenzuwirken und ihre Zeitgenossen aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln. In ihren autobiographischen Prosatexten erinnert Stella Rotenberg sich an die einschneidenden Ereignisse vom Juli 1927, Februar 1934 und März 1938, und in den in den achtziger Jahren entstandenen Erzählungen („Als meine Mutter...“) verwendet sie eine dichterisch verfremdete Mutterfigur, eine Art Mutter-Imago, als „Drehscheibe der Erinnerung“. Das hier gebotene reiche biographische und autobiographische Material beleuchtet Stella Rotenbergs uvre auf vielfache Weise, doch wünscht man sich, mehr über ihren Mann, ihren Sohn, ihren englischen Alltag und ihre Reisen und Begegnungen in Österreich und Deutschland in den letzten Jahren zu erfahren. Die acht beigegebenen Zeichnungen des aus Mährisch-Ostrau gebürtigen israelischen Künstlers Yehuda Bacon sind vermutlich nicht als Illustrationen der Texte, sondern als eine gewisse Atmosphäre oder Stimmung heraufbeschwörende Gebilde gedacht. In Anbetracht von Stella Rotenbergs Winterreise des Herzens erscheint das Photo der lachenden Dichterin (im Vorspann des Buches) auf den ersten Blick als Stilbruch. Man denke aber an Schnitzlers Wort „Wenn man nicht mehr weinen kann, dann lacht man“, oder an das im Buch zitierte Wort einer französischen Schauspielerin: „... am innigsten lachte Brecht, wenn er ein Wahres erkannt“. Scherben sind endlicher Hort ist ein ergreifender Beweis dafür, daß Stella Rotenberg, mit Verschollenem haushaltend und Worte, Silben und Scherben klaubend, sehr viel Wahres erkannt und vermittelt hat. Stella Rotenberg: Scherben sind endlicher Hort. Ausgewählte Lyrik und Prosa. Hg. von Primus-Heinz Kucher und Armin A. Wallas. Mit Illustrationen von Yehuda Bacon. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1991. (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur - Studien und Texte 6). 187 Seiten, öS 198, -.