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Seltsam ist es um die österreichische Identität bestellt. Den meisten erschließt sie sich nur in der Negation. Die sich ihrer rühmen, verraten sie täglich. Die an ihr zweifeln, wissen um sie. Die von Berufs wegen mit ihr befaßt sind, greifen nach dem Erlesenen und schämen sich des Gewöhnlichen. Sie suchen das Zentrum und verachten die Ränder. Exilliteratur aber ist Rand-Literatur, und Brainin ist ein Randliterat im doppelten Sinn: aufgrund seiner Biographie und aufgrund seiner Stoffe. Fritz Brainin verschwand am 1. Juli 1938 nicht nur aus Wien, sondern auch aus der österreichischen Literaturgeschichte. Ein halbes Jahrhundert später gab es in diesem Land nicht mehr als zwei, drei Publizisten, denen der Name Brainin etwas sagte. Durch einen von ihnen, Konstantin Kaiser, wurde 1990 die Herausgabe des Gedichtbandes „Das siebte Wien“ ermöglicht, eines Werks, das bis in die Bauweise der Gedichte, in Wortschatz, Syntax und verstüummeltem Reim die Gewalt zurückwirft, die der Autor in seinem Leben erfahren hat. „Das siebte Wien“, das einen Zeitraum von fünfzig Jahren umspannt, spiegelt, wie Jörg Thunecke im Nachwort anmerkt, den Lebensweg und die künstlerische Entwicklung Brainins: seine Jugendjahre in Wien, die Flucht über Italien ins New Yorker Exil, den Einsatz als US-amerikanischer Militärpolizist in einem Kriegsgefangenenlager in Nebraska, die ersten Nachkriegsjahre in Brooklyn, persönliche Schicksalsschläge (die Ermordung seines Sohnes und die daraus folgende Geisteskrankheit seiner Frau), die Arbeit als technischer Übersetzer, schließlich seine erste Reise nach Wien im Herbst 1988, fünfzig Jahre nach seiner Vertreibung. Faszinierend ist, wie sehr sich diese Gedichte dem ordnenden Zugriff ihres Autors entziehen. Wie Ernst Waldinger ist Brainin sein ganzes Leben lang dem Reim treu geblieben. Auch ihm war er ein Mittel, die Erschütterung zu bändigen; nur greift in seinen Versen der Reim nicht mehr, holpert, schlingert, pendelt zwischen zwei Sprachen, zwischen dem Wienerischen seiner Jugendjahre und dem Englisch des Alters, zwischen New Yorker Slang und Wiener Dialekt. Scheinbar um den Reim, eigentlich um sein Leben zu retten, verbiegt Brainin die Syntax, bricht er Rhythmus und Melodie der Gedichte, zerstört sie damit im Augenblick ihres Entstehens und schafft sie neu. Mich erinnern Anstrengung Postkarte vom 4.10. 1938, die Fritz Brainin von Bord der „M.N. Vulcania“ (die ihn von Neapel nach New York brachte) an Richard Thieberger nach Frankreich schickte: „Herzlichste Grüße an Deine Frau. Von Hocki (Fritz Hochwälder) seit Juli keine Nachricht ...“ Der österreichische Schriftsteller Peter Paul Wiplinger ging 1990 zum Geburtshaus Brainins, Wien II, Lessingg.8. Sein Bericht darüber: Ich trete vor das Haus, hinein kann ich nicht, das Haus ist verschlossen, und ich sehe an der linken Ecke des Hauses im Parterre ein vergilbtes, mit einem Messer oder einer Rasierklinge in der Form eines Judensternes zerschnittenes Plakat, vermutlich vor langer Zeit, zur Zeit des Wahlkampfes, der mit der Wahl von Dr. Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten der Republik Österreich endete, von einer linken Organisation affichiert. Die Headline des Plakates lautet: „Das hat Österreich nicht nötig!“ Darunter angeführt persönliche Bekenntnisausspriiche des österreichischen Gerichtspsychiaters, des Arztes und ehemaligen Parlamentariers Dr. Scrinzi, des früheren SA-Sturmführers, den die NDP als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl aufgestellt hatte, unterstützt von vielen österreichischen Organisationen: (=) Zu den Juden: „Ein gewisser, unheilvoller und negativer Einfluß dieser Gruppe kann durch die Geschichte verfolgt werden.“ Zur slowenischen Minderheit: „Die Trennung muß eine saubere sein.“ Zu Österreich: „Ich bekenne mich zur Deutschen Nation.“ Zur Volksgesundheit: „Es wäre nützlich, wenn sich die Unterbegabten sterilisieren lassen würden.“ Zur Gesellschaft: „Der Fortbestand der Art ist entscheidend abhängig davon, elitäre Rangforderungen zu bilden.“ () Ich weiß nicht, ob Fritz/Frederick Brainin bei seinem Besuch in Wien dieses Plakat mit solchen Parolen, die einer Marschordnung für eine Wahnseekonferenz 1988 in der Republik Österreich gleichen, gesehen und gelesen hat. Ich hoffe und wünsche es für ihn nicht. Wenn doch, dann ... verstehe ich, daß am