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Textzeile, die das Gezeichnete in eine überraschende Perspektive stellt. Jede Karikatur ist einprägsam, klar, sparsam - und damit erfolgreich. Otto Flatter verwendete eine relativ konservative Bildersprache, womit ereine große Zahl von Leuten erreichen konnte. Unwichtige Details werden ausgelassen, kunstvolle Dekorationen haben keinen Platz, notwendige Ortsangaben stehen fest im Raum, lassen aber der Handlung den Vordergrund. Flatter übertreibt nicht, seine grotesken Überzeichnungen sind für die ihm unsympathischen Protagonisten aufgespart, aber er vermeidet brutale Grausamkeit. Eine besonders eindrucksvolle Karikatur heißt „Heute Blutwurst“; Männer, von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt, aber sonst träge und auch abgestumpft wirkend, sitzen im Münchner Bierkeller mit einem Humpen Bier vor sich auf dem Tisch. Man kann sich schwer vorstellen, daß diese Leute auch nur zu etwas zu bewegen sind, weder im Guten noch im Bösen, aber mit der Zeit hat der energische kleine Teufel am Tischende den richtigen Schlüssel zu ihrer Furchtphantasie gefunden. Eine andere Karikatur illustriert die Hitlerpropaganda, daß der Führer Kinder liebe. Das vom Führer in die Höhe gehobene Kind schreit zwar aus Leibeskräften, aber niemand scheint das zu kümmern, alle grinsen dumm. Diese Serie markiert, wie gesagt, den Beginn der neuen künstlerischen Phase in Flatters Leben als Karikaturist-Propagandist. Bevor er aber damit richtig beginnen konnte, mußte er das Schicksal aller Neuankömmlinge teilen: Deutsche, Österreicher, Tschechen usw. wurden als feindliche Ausländer eingestuft - egal ob sie nun anglophil waren oder nicht - und kamen in Internierungslager. Flatter war besonders erbittert darüber, da ein Gerichtsbeschluß ihn als „harmlosen“ Fremden eingestuft hatte, was ihn aber trotzdem nicht vor dem Lager auf Isle of Man in der irischen See schützte. Fast drei Monate lang arbeitete er im Lager als Koch und gab Zeichenunterricht, bis seine antinazistischen Referenzen und damit seine Entlassungspapiere endlich eintrafen. Das Ministerium, dasin Großbritannien Informationsministerium, in Deutschland Propagandaministerium genannt wurde, stellte Flatter als Zeichner an, d.h. beauftragte ihn, politische Karikaturen für Flugzettelabwürfe zur „Wehrkraftzersetzung“ der deutschen Soldaten zu zeichnen. Zu Beginn des Krieges war es die erste Aufgabe, die deutschen Soldaten von einer Invasion Großbritanniens abzuhalten. Als geschulter Porträtist und Zeichner konnte Flatter mit wenigen Strichen eine komplexe politische Situation klar und eindrucksvoll darstellen. Nachdem er - wie er später schmunzelnd sagte — sein Scherflein dazu beigetragen hatte, daß es nicht zur Invasion kam, ersuchte ihn die belgische Exilregierung um Zeichnungen für ihre Zeitschriften (z.B. „Marine. Illustre Belge Mensuel“) und Flugzettel. Eine von ihnen behandelt das Thema „Das Judengeschaft“; Flatter wollte damit den zahlreichen Lesern der Untergrundzeitungen klarmachen, daß die Bevölkerung nicht nur fanatischen Politikern ausgesetzt war, sondern einer feindlichen Staatsmaschinerie, die zuerst ihr nicht genehme Bevölkerungsgruppen terrorisierte, dann ihre Einnahmsquellen konfiszierte und sie schließlich hinauswarf, deportierte und umbrachte - auf Staatsbefehl. Otto Flatter selbst gelang es, seinen kleinen Sohn aus erster Ehe nach Großbritannien bringen zu lassen, aber fast alle anderen Familienmitglieder gingen in den Konzentrationslagern zugrunde. Zur gleichen Zeit arbeitete Flatter an der Rekonstruktion der Serie „Mein Kampf Illustrated“, nachdem alle Blätter einem Bombenangriff auf das Londoner Kaufhaus Selfridges, in dem die Ausstellung gezeigt worden war, zum Opfer gefallen waren. Flatter war in seinem späteren Leben immer stolz darauf, daß er im Jahre 1938 eine Karikatur geschaffen hatte (schwarz-weiß, mit Farbe gehöht), die „Konzentrationslager“ heißt, und in derer das Ende der nationalsozialistischen Politik beschwor: Die Sonne geht unter, die Opfer des nationalsozialistischen Staates beginnen ihren hoffnungslosen Weg durch die Tore des KZs, die als aufgesperrte Kiefer eines Totenkopfes dargestellt sind. Der Tod trägt eine Mütze, geschmückt mit Nazi-Insignien; er ist ein Nazirekrut. Eine lange Schlange von Menschen zieht sich bis über die Hügelkrone und verliert sich in der Ferne: Juden, Zigeuner, Geisteskranke, politi17 sche Gegner. Vor wem wird die Verfolgung Halt machen? Ist kein Ende in Sicht? Die Ereignisse im März 1938 in Österreich verschärften natürlich alle Ängste Flatters. Die Politiker Europas nahmen den „Anschluß“ hin. Unter Flatters Hand verwandelte sich der Einmarsch der deutschen Truppen zu einem Siegeszug, die deutsche Armee rollte durch die österreichische Landschaft, liebevoll angedeutet durch Silhouetten von Städten, Türmen und Hügeln; die Truppen drängen immer weiter nach Osten und niemand versperrt ihnen den Weg. Sie kommen als Befreier, nicht wahr? Das unabhängige Österreich ist tot, die personifizierte Austria liegt zertrampelt am Boden. Und die Ereignisse im September 1938, den Überfall auf die Tschechoslowakei, stellte Flatter mit einem heißhungrigen Wolf dar, der seine Fangzähne tief in den Kopf des tschechoslowakischen Schafes senkt. Er nannte das Bild „Die Vergewaltigung der Tschechoslowakei“. Nachdem er die ganze Serie „Mein Kampf Illustrated“ neu gezeichnet hatte, arbeitete Flatter bis Kriegsende für das Informationsministerium. Er mußte wöchentlich fünf Karikaturen abliefern, von denen zwei bis drei zum Druck in Massenauflagen in Millionenhöhe ausgewählt wurden. Flatter sprudelte nur so von Ideen, er hatte nie Schwierigkeiten, geeignete Themen für seine Karikaturen zu finden. Sein Einfallsreichtum wurde durch den Haß auf das Naziregime gespeist. Er brauchte nur das Papier mit einem Zeichenstift oder einem Pinsel zu berühren und Bilder, Ideen bauten sich vor ihm auf. Er war erfüllt vom Pflichtgefühl, einen persönlichen Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu leisten, gleichzeitig aber auch vom Gefühl der Solidarität mit den Männern der „Home Guard“, der Landwehr, der er für Feuerlöschaktionen u.ä. zugeteilt war. Er zeichnete thematisch auf zwei Ebenen: er benütze bekannte Themen und zeichnete sie auf die Tagessituation um. Die Karikatur „Göring fleht die Hexen an“ bezieht sich auf Reichsmarschall Göring, Herr der Lüfte, für den die Dinge nicht gut stehen. Seine Luftwaffe hat die britische Luftwaffe nicht vernichtet. Er braucht Hilfe und kniet am Brocken im Harz, um die Hilfe der