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20 Karl-Hans Heinz Schumserl Soweit ich mich erinnern kann, waren meine Eltern mit der Vergabe von Zärtlichkeiten und Liebkosungen nicht nur gegen meinen Bruder und mich äußerst sparsam, sie geizten damit auch im gegenseitigen Austausch. Für die letztere Feststellung bin ich Kronzeuge; denn wir hausten in einem Häuserblock in Floridsdorf auf Küche und Zimmer, wo für Heimlichkeiten und Getändel bei Tag und Nacht weder Raum noch trauliche Abgeschiedenheit bestanden. Und was die Nacht betraf, so benötigten Mutter und Vater die wenigen Stunden vor allem zum Kräftesammeln, ganz abgesehen davon, daß ich viele Jahre meiner Kindheit mangels eigener Bettstatt als hinderndes Glück in der Mitte trennend zwischen ihnen lag. Später, schon in der Hauptschule, teilte ich mit meinem Bruder einen alten, zerschlissenen Diwan, der unmittelbar am FuBende der Ehebetten stand. Die Unterschlagung der Liebesfreude, der kostbarsten Wahrung auf der Erde, entsprang gewiß nicht einer angeborenen Gefühlsarmut und einer daraus sinternden Herzenskälte, worin jedes Verlangen nach Küssen, Umarmungen und Streicheln erfroren wäre, als vielmehr dem Raub an Zeit und Kraft. Diese entschwanden in der kurzfristigen Bewältigung der täglich wie eine unausrottbare Flechte sich ausbreitenden und alles umstrickenden Sorgen. Ein Loch im Ärmel meiner Jacke war schon eine kleine Tragödie. Meine Eltern waren glühende Eisblöcke, die in einer Wüste ohne Barmherzigkeit dahinschmolzen. Meine Mutter mußte Tag für Tag - Vater arbeitete oft auch sonntags - um halb sechs aus den Federn, um Frühstück und Jausenbrot für uns alle zuzubereiten. Mein Vater, der einige Minuten später aufstand, mußte pünktlich um sechs außer Haus, da er zu seinem Arbeitsplatz fast eine Stunde unterwegs war. Nie habe ich, wenn ich selbst vor sechs schon aus dem Schlaf gerissen wurde, um abwechselnd mit meinem Bruder Milch und Brot zu holen, gesehen, daß sich mein Vater von meiner Mutter mit einem Kuß verabschiedet hätte. Und dabei hatten wir junge Eltern. Es lief alles ohne viele Worte ab, ein schemenhaftes Hin und Her, das mich bedrückte. Meine Mutter half meinem Vater stets in das Sakko oder im Winter in den Mantel, in dessen Außentasche sie bereits vorsorglich das Jausenbrot verstaut hatte. Sie öffnete die Tür und hielt seinen verbeulten Hut bereit, den er mit einer fahrigen Bewegung rasch aufsetzte. Mit einem gemurmelten Servus oder Wiedersehen war er draußen. Am nervösen Geklapper seiner Schuhe auf der Steige, einem getrommelten Protest, merkte ich, wie getrieben er war. Hie und da strich meine Mutter mit einer scheuen Geste beim Abschied kurz über seine Schulter, eine Art Trost und Segnung. Nachher stellte sie sich stets ans Gangfenster, um ihn aus dem Haus treten zu sehen. Sie hat nie die Hand zum Gruß erhoben. Er hat sich also nie umgedreht. Vermutlich wußte er gar nicht, daß sie ihm nachsah. Mit einem bekümmerten Blick kam sie dann zurück, deckte für uns Kinder den Tisch und packte die Jausenbrote in die Schulranzen. Immer trieb sie uns an, ermahnte uns, in der Schule brav zu sein und auf der Straße acht zu geben. Sie wollte uns rasch loswerden, denn gleich nach uns machte sie sich selber auf den Weg, um in fremden Häusern für fremde Leute schmutzige Wäsche zu waschen. Rückschauend mag es auf den ersten Blick recht verständlich erscheinen, daß in der täglichen Hetze keine Zeit auch nur für einen flüchtigen Kuß zu erübrigen war. Aber es war, wie ich später erkannte, ein bewußter Verzicht meiner Eltern, die eine unzulängliche Herzlichkeit für ein paar Sekunden ablehnten. Lieber wollten sie Herz und Seele auf Lager arbeiten lassen. Einteilen, Sparen und Knickern waren ihnen aufgezwungen, und so hielten sie es auch mit Liebe und Freude. Wie es nur zu Ostern und zu Weihnachten ein Zuckerstriezel gab, so wurden nur zu Geburts- und Namenstagen oder anläßlich großer Feste Zärtlichkeiten verteilt. Ich habe noch heute jeden meiner Geburts- und Namenstage meiner Kindheit frisch in Erinnerung, als hatte ich ihn gestern erlebt. Ebenso jedes Geschenk. Es gab zwar keine Torte mit brennenden Kerzen, aber meine Mutter sparte sich eine halbe Stunde Zeit dafiir zusammen. Sie wiinschte mir alles Gute Karl-Hans in MdZ Nr.3/1990, S.11-14, mit einem Auszug aus seinem unveröffentlichten Roman „Glut unter der Asche“ und einem von ihm selbst verfaßten Lebenslauf sowie einer kurzen Bibliographie vorgestellt. In Nr.3/1986 veröffentlichte er eine Würdigung seines Freundes Viktor Matejka aus Anlaß von dessen 85. Geburtstag. In Nr.3/1989 wurde sein Buch „Im Zwielich. Roman aus der Endzeit Österreichs“ besprochen. Geboren 1907 im Arbeiterbezirk Wien-Floridsdorf, wurde er nach 1934 ein Mitarbeiter des Wiener Vizebürgermeisters Ernst Karl Winter und leitete bis 1936 dessen Gsur-Verlag. Während der Naziherrschaft in Österreich baute er eine Widerstandsgruppe in der Finanzverwaltung auf. 1945/46 war er stellvertretender Chefredakteur des „Neuen Österreich“. und schenkte mir eine Kleinigkeit. Ein paar dünne Rippen Schokolade, sogenannten Bruch, einen schon lange gewünschten Bleistiftspitzer, oder einen nicht schmierenden Radiergummi, um mir das Leben in der Schule zu erleichtern. Sie tat es mit einer rührend verlegenen Gebärde, als schämte sie sich, mir nicht mehr bieten zu können. Dabei drückte sie mich ganz fest an sich und küßte mich immer wieder auf Mund und Wangen. Manchmal, wenn das Geld reichte, durfte ich zum Haarschneider gehen. Das besorgte sonst mit mehr oder weniger Geschick mein Vater mit einer Papierschere. Am Geburtstags