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Efraim Frisch: Drei Essays Literatur in der Schule „Denn ehe der Knabe lernet Böses verwerfen und Gutes erwählen, wird das Land verödet sein.“ Sollte man glauben, daß ein uraltes Prophetenwort aktuell geworden ist und buchstäblich den Zustand trifft, dem wir uns nähern? Oben in den Akademien die Humanisten sind glücklich, daß es endlich gelungen ist, das Dunkel über der Datierung der Platonischen Schriften zu lichten, unten aber, dort, wo vielleicht ein kleiner Plato oder Leibnitz eben anfängt, die Welt wahrzunehmen, ist es düster. Schlechte Aussichten für sie und ihnen verwandt Geartete. Der Lehrer mit dem Bakel wäre kaum eine Gefahr - eine viel schlimmere ist der, den wir für ihn eingetauscht haben: der Lehrer mit dem Problemkomplex. Es wäre Stoff für einen komischen Dichter, den Mann darzustellen, der anfängt, die Möbel in seinem Zimmer umzustellen und, weiles nicht nach Wunsch gelingt, dazu übergeht, das Haus umzubauen, dann die Straße, dann die Stadt, das Land, den Staat die Welt! Klar, daß es ein Mann von mindestens napoleonischem Format sein müßte, aber zur Leitung einer Volksschule wäre er doch kaum geeignet. Ich habe bei mancher anderen Gelegenheit bereits darauf hingewiesen, wieviel mehr Nutzen als die Avantgarde der „neuen Schule“ alle rückwärts gerichteten Kräfte aus dem Emanzipationskampf der Schule zu ziehen verstehen. Mit der Phrase Entpolitisierung der Schule wird nur Unfug getrieben. Die Schule ist heute politisch. Entpolitisierung hat den i gleichen Sinn wie das Wort „überparteilich“ im Munde jeder nationalistischen Gruppe. Ich greife aus dem täglich wachsenden Berg pädagogischer Literatur eine Schrift heraus, die mir für den Zustand beispielhaft und deren Verfasser typisch für die Haltung wohl der Mehrheit der Lehrerschaft zu sein scheint: „Literarische Erziehung“ von Severin Rüttgers (Langensalza, Verlag von Julius Beltz, Berlin, Leipzig). Ein Lehrer will sich und seinen Berufsgenossen darüber Klarheit verschaffen, was er den Kindern zu lesen geben soll. Nachdem er von Adam und Eva angefangen so ziemlich alle Fragen, die die Welt bewegen, angeschnitten und gleich auch erledigt hat, gelangt er zu dem Ergebnis, daß, abgesehen von etwas Folklore und einzelnen Erzeugnissen der „vorrationalen“ Epochen, so gut wie nichts sich dafür eignet; daß die Literatur für die Schule erst erfunden werden müsse. Doch dieses Suchen nach dem „Lebensgesetz der literarischen Darstellung für das Kind“, für seine „Sachlektüre“ scheint nur ein Vorwand. Eigentlich ist es eine Staats- und Gesellschaftslehre, eine Kulturmorphologie und Theologie, Biologie und Geschichtsphilosophie und noch einiges mehr. Kurz: jeder sein eigner Spengler. Nur mit so viel Konsequenz, als pedantischer Eigensinn und zeitpolitische Wünschbarkeit es gerade noch erlauben. Natürlich liegen alle „Werte“ weit hinten, und je weiter hinten desto wertvoller. Was aber etwa zwischen dem frühen Mittelalter und heute an Werten unserer Nationalliteratur vorhanden ist, ist als geistverdächtig abzuweisen. Vorn aber ist nichts. Angesichts solch trostloser Lage sollte man meinen, daß das beliebte „zurück zu“ hier keineswegs mehr ausführbar wäre, aber dem Problematiker ist nichts zu schwierig: man fordert, dann hat man. Aber bis dahin hat die Schule die sonderbare Aufgabe, die Initiative zur „aktiven Selbsthilfe“ zu entfachen und dem „Eigenrhythmus der urmenschlichen Kräfte und Triebe“ zum Durchbruch zu verhelfen (siehe: das Argument der Straße und die Kriminalistik der Jugendlichen). Was die Lektüre solcher Bücher zur Qual macht, ist die heillose Verknäulung von richtiger Beobachtung und falscher Anwendung, von guter Absicht und falschem Ziel, von praktischer Lehrererfahrung und der Vorliebe für Probleme, deren Erörterung der Verfasser kaum gewachsen erscheint. Das gebärdet sich revolutionär und erweist sich in allen über das engste Fachgebiet hinausgehenden Fragen geradezu von naiver Weltfremdheit. Man denkt zuweilen an Jean Pauls Schulmeisterlein Wuz, das sich aus Armut zu den Titeln der Bücher, die es haben möchte, den Text selber schreibt. Allerdings fehlt dem neuen Lehrertypus Efraim Frisch Geboren wurde Efraim Frisch am 1.3.1873 in Stryi im äußersten Südosten der K.u.K. Monarchie, einem zwar entlegenen Winkel des alten Österreich, Jedoch zugleich Heimat vieler großer Talente. Vom Vater für das Rabbinat bestimmt, besteht er als junger Revoluzzer darauf, das k.u.k. Gymnasium in Brody zu besuchen, was die erste Verstimmung mit dem Elternhaus hervorbringt. 1894, nach dem Abitur, übersiedelt er gegen den renitenten Protest des Vaters vom Rabbinerseminar auf die Wiener Universität. 1895 belegt er in Berlin Philiosophie, Kunstund Literaturgeschichte, und beendet sein Studium 1900 in Kiel. In diesen Jahren enistehen einige Freundschaften, die für seinen späteren Weg von Bedeutung sein sollten. 1896 triffl er bei Georg Hirschfeld Christian Morgenstern, und eine tiefe Freundschaft für ein ganzes Leben entsteht. Trotz aller Gegensätze, dominieren tiefe geistige Bindungen diese Beziehung. Eine: weitere ähnlich enge Beziehung entstand zu dem damals mächtigen Cheflektor des S. Fischer Verlages, Moritz Heimann. 1901 verarbeitet er im Roman „Das Verlöbnis“ den Konflikt mit dem Vater, es erscheint ein Vorabdruck in der „Vossischen Zeitung“, 1902 als Buch im S. Fischer Verlag, und erst dann ist er dem literarischen Berlin ein fester Begriff. Er lernt Max Reinhardt, Bruno Gassner, Max Tau, Robert Walser, Max Mell, Frank Wedekind, Oscar Sverke, Dublin,