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viele, für die es nur Durchgangsstation war und die nachher darüber schrieben. Das Eiend scheint den meisten, die damals durch Portugal reisten, entgangen zu sein, die Schwärme ausgezehrter Bettlerkinder, nackt von der Körpermitte abwärts, mit eingefallenen Wangen und Augen, aus denen der Hunger schrie. Man spricht im Norden so viel über die Gelassenheit, das Leichtlebige, die Heiterkeit in südlichen Ländern. Doch in diesem Portugal habe ich zunächst nur Trübsinn, Schlappheit und harte Lebensbedingungen getroffen. Es stimmt schon, daß alles so ruhig war. Es war jedoch eine Friedhofsruhe, es passierte nichts, man durfte auch gar nichts sagen. Die Opposition gegen Salazar war zwar stark, aber still- nach oben hin und nach unten hin. Sicher, die meisten, die hier ankamen, waren heilfroh, sie hatten ihr Leben gereitet und atmeten erst einmal richtig auf, aber ich kannte viele, die wollten bald nichts wie weg, man konnte hier ja nicht richtig weiterkommen, es war alles so eng, so begrenzt. In einem kleinen Land ist alles klein, die Initiativen und die Möglichkeiten, die Menschen leben wie Vögel im Käfig. Porto, 1979, Lokalaugenschein in der rua Torrinha. Das Haus mit der Nummer 86 ist eines von mehreren Gebäuden, die eine aus Holz, kaputten Kacheln und Eisen geflickte Front bilden. Das große Tor in der Mitte führt nicht mehr in den Hinterhof, wo sich einst die //has, die „Inseln“ befanden, vierzig kleine Baracken, in denen arme Näherinnen ihr Dasein fristeten. Diese Inseln des Elends hat man vor vielen Jahren abgetragen, doch an ihre Stelle nichts Neues gesetzt. Noch gibt es die mercearia, die Greislerei, in deren Auslage damals wie heute sich dicke Fliegen an einer Art queijo flamengo (holländische Käseart) gütlich tun. „Beim Eingang stolperte man über zwei Kartoffelsäcke und stieß mit dem Kopf an die von der Decke hängenden Stockfische und dunkellilafarbenen Tintenfische. Nachdem man dieses Stilleben in sich aufgenommen hatte, betrat man einen engen und immer kühlen Gang, erstieg die Treppe im Hintergrund und las auf dem ersten Treppenabsatz über der Tür links »Damenfriseur«, über der Türe rechts »Strickwarenfabrik«, und auf dem zweiten Absatz zu beiden Seiten »Editorial Cultura«. Am Ende stieß man auf eine hölzerne, ungestrichene Gittertür, die den weiteren Aufgang versperrte.“ Im dritten Stock, bei der kleinbiirgerlichen Familie Sousa hatte das junge Madchen Ilse Lieblich gewohnt, als es 1934 nach Porto gekommen war. Bei den Sousas wohnt auch Jose (Josef) Berger, deutsch-jiidischer Emigrant in der Stadt Porto und Protagonist ihres 1962 erschienenen Romans Sob ceus estranhos („Unter fremden Himmeln“), der 1988 in Portugal wieder aufgelegt wurde und seit 1991 auch in der von ihr selbst ins Deutsche übertragenen Fassung vorliegt. Ilse Losa hat in ihrem Buch die Rückständigkeit eingefangen, den Staub, der in diesem Land noch im 19. Jahrhundert auf den Dingen und Menschen lag- und das Behäbige, Selbstzufriedene, eine durch nichts und niemanden aus der Ruhe zu bringende Selbstgenügsamkeit, mit der sich Portugal am westlichsten Zipfel Europas weit weg im Guten wie im Bösen von jeglicher europäischen und anderer Weltgeschichte wähnte. In dieser Atmosphäre eines „glückseligen Nicht-Seins“ (Miguel Torga) brachen plötzlich zu Tausenden die Emigranten ein und wurden zunehmend als lästige Störenfriede empfunden. Daß es für die Flüchtlinge nach 1938 gar nicht mehr gemütlich war, in Portugal anzukommen, erlebte Ilse Losa am Beispiel ihres Bruders Ernst. Doch diese Erfahrungen mußten in ihrem Roman ausgespart bleiben, sonst hätte der in den 60er Jahren nicht die Zensur passiert. Mein Bruder war inzwischen nach Italien gegangen, um Gesang zu studieren, denn das konnte er in Porto nicht; doch als dann Hitler auch in Italien über das Schicksal der Juden bestimmte, kam er wieder nach Portugal zurück. 1938 schloß Salazar die Grenzen für die refugies — wer dann nicht reinkam, der mußie hier Verwandte, oder zumindest Beziehungen, haben und natiirlich ein Visum zum Weiterfahren, sodaß er hier sozusagen nur auf das Schiff zu warten brauchte, oder den „Clipper“ nach Übersee. Wer noch Geld hatte, behalf sich mit dem Casablanca-Trick: Man blieb dreißig Tage in Portugal, denn das war ja offiziell erlaubt, und fuhr danach mit dem 25 Schiff nach Casablanca, konnte auch dort dreißig Tage bleiben und danach in Portugal wieder neu einreisen- so fuhren manche Leute ständig zwischen Portugal und Casablanca hin und her. Mit denen, die so wie ich schon ein paar Jahre in Portugal lebten, ging man natürlich milder um, aber man mußte trotzdem immer zeigen, daß man Geld besaß. Und da gab es sehr lustige Episoden, wie z. B. die von dem jüdischen Ingenieur, der es fertiggebracht hatte, in Portugal eine gutbezahlte Arbeit zu finden; der lieh sein Geld den anderen, damit sie es auf der Polizei vorzeigen konnten - und anschließend gaben sie’s ihm zurück. Als mein Bruder zum zweiten Mal nach Portugal kam, da mußte schon mein Mann dafür bürgen, daß er sich nur drei Monate lang hier aufhalten und dann nach Amerika weiterreisen würde. Nun war jedoch das Affidavit, also die Summe, die jemand fiir ihn in Amerika auf der Bank hinterlegen mußte, damit er auch wirklich einreisen konnte, nicht groß genug, was aber die Portugiesen zunächst nicht wußten. Erst als das amerikanische Konsulat meinem Bruder die Einreisebewilligung verweigerte, erfuhr auch die portugiesische Polizei davon. Mein Bruder lebte damals in Lissabon und gab Konzerte und als er eines Abends gerade beim Weggehen war, kamen die Pides (Geheimpolizisten) und holten ihn ab; er bat sie, ihn wenigstens diesen einen Abend noch singen zu lassen, wo doch das Publikum schon im Saal auf ihn wartete, doch es half nichts, er mußte mit. Später habe ich darüber eine Geschichte geschrieben, allerdings hab ich sie nach Deutschland verlegt, man durfte hier ja vieles nicht schreiben, und außerdem hätte die Geschichte ja auch wirklich viel besser nach Deutschland gepaßt. Mein Bruder hat dann 15 Monate im Gefängnis gesessen, so lang dauerte es, bis ich ihm endlich ein Affidavit verschaffen konnte, es war damals schon furchtbar schwer. Und dabei sollte er damals gar nicht nach Nordamerika, Brasilien wäre ihm lieber gewesen, aber dafür hätte er sich taufen lassen müssen, und das wollte er denn auch wieder nicht. Zuerst steckten sie ihn nach Aljube, in die calabouga, ins „Verließ“ - so hieß jener Teil, in den die Leute ohne Geld gesperrt wurden. Bis wir dann endlich an denrichtigen Polizisten kamen und er nach oben