OCR
ter“ (Brief 190) ihre Mitarbeiter waren; der einzige Akademiker, ihr „Kamerad“, ein 22jähriger Medizinstudent, mit dem sie eine tiefe Liebe verbindet. Sie bricht mit ihm, als sie nicht mehr nahe seinem „rußigen Kittel“ arbeiten darf. Obwohl er sie treulich sonntags besuchen kommt, kann seine Zuneigung ihr keine „Süße“ und keinen Trost mehr bieten. Zu stark ist ihre existentielle Angst, die sie als „amor fati“, „Liebe zum Schicksal“, bezeichnet. Nur durch stolzeste Bejahung des Schmerzes, ja durch sein leidendes Vorwegempfinden glaubt sie künftiges Unheil bestehen, sich einen Rest ihrer geistigen Habe erhalten zu können: „Was war, war schön und kann nun nie mehr im Alltag des Lebens Glanz und Kraft verlieren.“ (Brief 198) „So will ich (...) unter mein Schicksal treten (...) Wenn ich es schon nicht kenne: ich habe es im voraus bejaht, mich ihm im voraus gestellt, und damit weiß ich, daß es mich nicht erdrücken wird, mich nicht zu klein befinden.“ (Brief 187) Als der Vater und sie endlich eine Emigration, und auch das nur vage, in Erwägung ziehen, kommt der Entschluß zu spät. Fast scheint es, als ob sie ihren hybriden Trotz, alle Paradoxien ihres Wesens, vielleicht überhaupt ihren Passionsweg, als Zeugungskraft für ihre Dichtung braucht. Weil sie ohne Leiden nicht dichten, und ohne Dichten nicht leben kann, ist es ihr unwichtig, wie man sie mordet. Ihre Besessenheit zum Dulden bestätigt ihr selber ihre Einzigkeit, auch wenn sie solchen Zwang zur Größe nicht ausdrücklich zugibt, sondern sich in verhülltem Messianismus langen Geschichtsketten von Märtyrern einreiht. „Diese Kraft vorm Schicksal (...) daß es nie größer sein möge als Dein eigenes Herz“, wünscht sie der Schwester. (Brief 188) So läuft sie ‚geduckt‘, aber innerlich renitent ihren „Weg“, ummantelt von der Stoik erkalteter, verhärteter Lava, unter der das verborgene Magma lodert. Beginnt sie zu ‚leben‘, d.h. zu dichten, wird dessen Glut zur eruptiven Gewalt ihres Wortes. Man kann in ihren Texten manchen literarischen Einflüssen nachspüren, aber sie sind für die Gedanken- und Sprachgewalt des Ganzen bedeutungslos, verdichtete ‚Natur‘ geworden wie Baum und Tier, wie Licht und Finsternis, die sie zu Ausdruck formt. Ähnlich Annette von Drostes Versen fallen an Gertrud Kolmars Lyrik ungewöhnliche Vokabeln auf; Rilke wirkt ein, ohne daß sie ihn nachzuahmen versucht. Unter Trägheit und Öde der Wirklichkeit macht sie zuweilen Else Lasker-Schülers exotische Mystik sichtbar. Auch eine Nähe zu Günter Eich wird deutlich, sowohl in eigentümlichen Themen und Bildern wie in der Kargheit oft verstummender Laute. In den Wappenbildern, deren Inhalte von Malern vorgegeben sind, drückt sie ihre apokalyptischen Visionen am unverhohlensten aus, ebenso eine tödliche erotische Glut. Zuweilen scheint es - wie im Wappenschild von Allenberg - als steile sich ihre kreative Kühnheit zu einem konkurrierenden Schöpfertum auf. Spiegelbildlich hält sie dem Weltengründer sowohl sein Versagen vor: eine mißlungene Erde, wie ihr Verständnis für ihn: ist doch auch Gertrud Kolmar Eine, die „über Öde“ nachsinnt. Sie findet sich ab mit der gespaltenen Welt und auf ewig getrennten Geschlechtern, die keine Liebesbrücke je vereinen kann. Mit dieser Bejahung vermischt sich in ihrem Ich bruchlos die Rebellion des Geschöpfes. Es ist schmerzlich, aber vielleicht auch tröstlich, daß wir nichts über ihr Ende wissen. Sie sprach viele Sprachen: Französisch, Englisch, Russisch, Hebräisch (das sie noch mit 45 lernte), hatte vor fremden Umwelten also keine reale Angst. Ob sie aber auch die Sprache des geistigen Sterbens beherrscht hat? Wir können nur hoffen, daß ihr Schicksal ihr eine Ölbergnacht eines verzweifelten Herzens erspart hat. 11 Ruth Klüger Besuch der Exil-Touristinnen in Wien Zwei Dozentinnen reiferen Alters erinnerungssüchtig mit verdrängtem Ortssinn verwechseln im Volkspark den Standort der Statuen (den Grillparzer und die Kaiserin Elisabeth, ich bitt Sie!) stehn horchend in der kitzelnden Stille der Durchhäuser und angenagelt vor dem Tumult der steinernen Mythen an der Burg. Bestellen Palatschinken und (kichernd) Kastanienreis. An der Aussprache erkennbar als Einheimische aber im Ausdruck häufig als Fremde kommen sie bei schnellgesprochenem Nestroy grade noch mit finden sie das Kopfsteinpflaster der Innenstadt zu hart für ihre Damenschuhe von drüben treten sie in zu dünnen Mänteln nach Museumsbesuch aus der Berggasse 19 laufen sie mit roten Ohren und Nasen gegen den schneidenden Wind im April. Die Gedichte und Briefe Gertrud Kolmars sind zitiert nach: Gertrud Kolmar: Weibliches Bildnis. Sämtliche Gedichte. München: dtv 1987: Gertrud Kolmar: Briefe an die Schwester Hilde (1938 - 1943). Hg. von Johanna Zeitler. München: Kösel 1970, Die Schrifstellerin Angelika Jakob (Pseudonym für die in Siegen/BRD lebende Literaturwissenschaftlerin Ingrid Kreuzer) hat seit 1982 vier Bände Erzählungen (u.a. „Flieg, Schwesterlein, flieg“, Siegen 1984; zuletzt „Rosinas Kostgänger“, Eggingen 1991) und zwei Gedichtbände veröffentlicht. Die Rede über Gertrud Kolmar hielt Angelika Jakob am 9. und 13. Mai 1993 in Dortmund und Hagen: